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Vertrauen schaffen statt Leistungsdruck erhöhen

Lesezeit: 6 Minuten
Das Foto zeigt Michael Conrads und Schüler des Ratsgymnasiums Minden, die auf einer selbstgebauten halbkreisförmigen Bank sitzen.
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Wege weisen aus dem Corona-Loch und wieder die Neugier auf das Leben wecken – das wollen die Lehrkräfte des Ratsgymnasiums in Minden für ihre Schülerinnen und Schüler erreichen.

Es wird gehämmert, gefeilt, gesägt. Der Geruch von frisch bearbeitetem Holz liegt in der Luft. Nein, hier handelt es sich keineswegs um eine Schreinerwerkstatt, sondern um einen Lehrraum im Ratsgymnasium in Minden. Hier entwerfen und bauen die Kinder und Jugendlichen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern die Möbel für ihre Unterrichts- und Schulräume – und schaffen so gemeinsam eine offene Lernatmosphäre, ganz nach ihren individuellen Bedürfnissen. Dies ist nur eines von bislang mehr als 50 Projekten, die an dem Gymnasium im Zuge des Bund-Länder-Aktionsprogramms „Aufholen nach Corona“ gestartet wurden.

Rückblick: Als vor rund drei Jahren das Coronavirus an Schulen im gesamten Bundesgebiet für Lockdowns und erhebliche Einschränkungen des Unterrichts sorgte, ergriff die Leitung des Ratsgymnasiums die Initiative und baute schnell eine leistungsfähige Server-Infrastruktur auf. „Während andere Schulen sich damit zufrieden gaben, regelmäßig Aufgaben per E-Mail an die Kinder und Jugendlichen zu versenden, wollten wir täglich mit all unseren 850 Schülern visuell in Echtzeit kommunizieren – und das über sämtliche verfügbaren Geräten, egal ob Laptop, Smartphone oder Tablet“, erläutert Michael Conrads, stellvertretender Schulleiter am Ratsgymnasium.
 

Mit Kindern in Beziehung bleiben

Neben der Kommunikation mit den Kindern und Jugendlichen setzten Conrads und seine Kollegen auch auf einen regelmäßigen internen Austausch, soweit dies die Pandemie eben zuließ. Auf diese Weise entwickelten die Lehrkräfte Wege, wie sie ihren Unterricht möglichst kreativ an die neuen Umstände anpassen konnten. „Und die technisch beschlageneren Lehrkräfte gaben wertvolle Tipps, was zu tun war, wenn eine Videokonferenz mal aus technischen Gründen abbrach“, erklärt Conrads, der seit 32 Jahren die Fächer Mathematik, Deutsch und Literatur unterrichtet.

Doch trotz aller Bemühungen gab es auch Schüler, die mit den Pandemie-bedingten Einschränkungen nur schwer umgehen konnten. „Wir erhielten Rückmeldungen von einigen Kindern, die uns sagten, dass ihr Leben fast nur noch aus dem Weg vom Bett an den Schreibtisch oder zum Kühlschrank bestand, und die kurz davor waren durchzudrehen“, schildert Conrads. Für diese Kinder und Jugendlichen wurde eigens die Schulaula zur Corona-konformen „Study Hall“ ausgebaut, so dass ihnen eine echte Alternative zum Homeschooling offen stand. 
 

Corona-Gewinner und -Verlierer

„Natürlich haben vor allem jüngere Schüler darunter gelitten, dass ihnen durch Homeschooling und das Tragen von Masken der soziale Umgang mit ihren Klassenkameraden ebenso wie der emotionale Austausch mit ihren Lehrkräften genommen wurde“, erläutert Conrads. Darüber hinaus waren – nach seiner Einschätzung – vor allem Kinder und Jugendliche betroffen, in deren Familien kaum ein geregelter Tagesrhythmus mit festen Strukturen gelebt wurde. „Das betraf durchweg alle sozialen Schichten“, macht Conrads deutlich. Der 57-Jährige betont, dass es gleichzeitig auch „Corona-Gewinner“ gab: Kinder und Jugendliche, denen es gelang, ihr Leben weiterhin zu steuern und aktiv zu strukturieren, die sich trotz aller Widrigkeiten ihre Neugier auf die Welt bewahrt haben. Diese, so erklärt der stellvertretende Schulleiter, seien allerdings deutlich in der Minderheit gewesen.

Zu tief schnitten die Corona-bedingten Einschränkungen ins Leben der Schülerinnen und Schüler, die gezwungen waren, sämtliche sozialen Beziehungen zu Freunden oder in Vereinen auf ein Minimum herunterzufahren. Folge: Was in der digitalen, virtuellen Welt passierte, gewann für sie immer mehr an Bedeutung. „Aber Smartphones und digitale soziale Medien ersetzen nun einmal keine persönlichen Begegnungen“, sagt Conrads. „Auf diese Weise können die Schülerinnen und Schüler keine Erfahrungen mit einem echten Bezug zu ihrer Person machen.“ 

Hinzu kam: Angesichts der alles beherrschenden Pandemie breitete sich unter den Kindern und Jugendlichen ein Gefühl der Ohnmacht aus. „Ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse zählten praktisch nicht mehr; sie konnten ihre Umwelt letztlich nur passiv erleben“, sagt Conrads. 
 

Fassade im Alltag

All dies hat tiefe Spuren hinterlassen, die sich aktuell im Alltag an den Schulen bemerkbar machen. „Viele Lehrkräfte haben den Eindruck, dass ihre Schülerinnen und Schüler deutlich langsamer, träger und unmotivierter agieren“, so Conrads. „Gleichzeitig bemerken unsere Kollegen, wie viel Energie es die Kinder und Jugendliche kostet, eine Fassade des Funktionierens im Alltag aufrechtzuhalten.“

Völlig abwegig erscheint dem Schulleiter daher die Vorgabe, die Schülerinnen und Schüler müssten nun die Pandemie-bedingten Lernrückstände schnellstmöglich wieder aufholen. „Dieser Druck ist alles andere als leistungsfördernd“, bekräftigt Conrads. Für den Lehrer ist es daher ein Unding, dass die bundesweiten Vorgaben zum Zentralabitur für die aktuellen Jahrgänge nicht an die Corona-Realitäten angepasst werden. Denn durch den Lockdown sind die Heranwachsenden aus Sicht des Pädagogen in ihrer Entwicklung eben nicht stehengeblieben, sondern sie haben einen anderen Weg eingeschlagen. Conrads: „Insofern können die Kinder und Jugendlichen nichts ‚aufholen‘. Stattdessen sind wir als Lehrer gefordert, diese neue Situation anzuerkennen und mit unseren Schülerinnen und Schülern eine neue Zukunft zu entwickeln.“

Folgerichtig setzen Conrads und seine Lehrerkollegen darauf, sich stärker mit möglichst vielen Kindern und Jugendlichen auszutauschen und auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Conrads: „Dafür brauchen die Schulen allerdings zusätzliche Ressourcen: Die einzelne Lehrkraft muss zeitlich entlastet werden und die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer muss deutlich erhöht werden.“ Derzeit sieht es jedoch eher weniger danach aus, dass die Schulbehörden kurzfristig neue Stellen genehmigen werden, um dieses Defizit anzugehen. 
 

Sportaktivitäten ins Leben gerufen

„Umso wichtiger ist es uns daher, dass wir durch unsere zusätzlichen Aktivitäten, die wir mithilfe des Programms ‚Aufholen nach Corona‘ finanzieren konnten, die Kinder und Jugendlichen ermutigen, wieder neugierig auf das Leben zuzugehen“, unterstreicht Conrads. Die Bandbreite der Angebote reicht dabei vom bereits erwähnten Möbelbauprojekt, das künftig mit den Diakonischen Werken als Kooperationspartner fortgeführt wird, über Museumsbesuche bis hin zu kulturellen Aktivitäten, wie sie am Ratsgymnasium traditionell gepflegt werden. Dazu zählen beispielsweise Theaterworkshops, mit brandneuem Musikequipment ausgestattete Proberäume oder eine neu geschaffene Schulgalerie. „Die Rückmeldungen unser Schülerinnen und Schüler haben zusätzlich ein hohes Interesse an sportlichen Aktivitäten deutlich gemacht“, sagt Conrads. Daraufhin wurden Kampfkunst-Kurse und Mannschaftssport-Projekte ins Leben gerufen.

Wenn Michael Conrads zurückblickt, zieht er ein nachdenkliches Fazit: „Letztlich hat die Corona-Krise schonungslos offengelegt, wie es um unser Schulsystem bestellt ist.“ Neben dem schleppenden Ausbau der Digitalisierung zählt für ihn dazu auch die zu geringe Zahl an Lehrern und pädagogischen Fachkräften an den Schulen. „Noch wichtiger ist es jedoch, geeignete Lehr- und Lernmethoden zu entwickeln, mit denen wir die Kinder fit machen für die Anforderungen des 21. Jahrhunderts“, betont Conrads. „Wir müssen uns stärker an den Zukunftskompetenzen – Kooperation, Kommunikation, Kreativität und Probleme lösen – orientieren, und das mit weitreichenden Konsequenzen für das Lehr-Lern-Setting sowie für entsprechend angepasste neue Prüfungsformate.“ Wie dies gelingen kann, dafür gebe es längst überzeugende Modelle, die in anderen Ländern bereits erfolgreich umgesetzt werden. Ein Beispiel ist der pädagogische Ansatz des Deeper Learning, den die Telekom-Stiftung zusammen mit der Heidelberger Bildungsforscherin Anne Sliwka an Schulen in Deutschland etablieren möchte. Michael Conrads und das Ratsgymnasium Minden sind einer der schulischen Partner im Projekt.

Auch deshalb schaut Conrads optimistisch in die Zukunft: „Eine gute, zeitgemäße Schule zu schaffen, das ist durchaus möglich. Wir müssen nur die dafür notwendigen Mittel in die Hand nehmen und die überfälligen Reformen beherzt angehen.“


Kinder und Jugendliche kämpfen immer noch mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie, auch wenn die Schulen inzwischen zum Präsenzunterricht zurückgekehrt sind. Wie digital ist das Lehren und Lernen heute? Konnten die 10- bis 16-Jährigen ihre pandemiebedingten Lernrückstände aufholen? Und welche Angebote haben sie dafür wahrgenommen? Antworten liefert die Allensbach-Befragung Lernen nach Corona, die die Telekom-Stiftung in Auftrag gegeben hat.