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Frau Borzi geht online

Text: Daniel Schwitzer | Lesezeit: 9 Minuten
Eine ältere Dame hilft einem älteren Herren mit seinem Laptop.
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TikTok, Tablet, Tetris: Kompetent mit Medien umzugehen, ist ein Thema nicht nur für Kinder und Jugendliche. Zu Besuch bei zwei Projekten, in denen auch andere Generationen noch was lernen können.

Nicht, dass Anne Borzi ein Reisemuffel wäre. Besonders für Italien schlägt das Herz der 79-Jährigen, von dort stammte ihr Mann, dort heiratete sie ihn vor mehr als einem halben Jahrhundert. Mit Lateinamerika dagegen hat Frau Borzi nun wirklich nichts am Hut. Muss sie auch gar nicht. Ist schließlich nur ein Beispielsatz, der gerade vom Beamer auf die Leinwand am Kopfende des Saals projiziert wird. „Mein schönster Urlaub war 1985 in Costa Rica!“, prangt da in fetten Buchstaben, daneben das Bild einer Palme am weißen Sandstrand. Genauso gut könnte es aber auch heißen: Mein erstes Auto war ein roter Fiat 500 Cabrio! Oder: Die beste Pizza Margherita aß ich 1965 in Neapel! „Ganz egal“, ruft Thomas Schacherer und klickt die Powerpoint-Präsentation weiter. „Wichtig ist nur, dass Sie einen Satz nehmen, den Sie sich auch merken können.“

Schacherer ist zu Gast in der Seniorenresidenz Hohentwiel im Süden von Stuttgart, um den Bewohnerinnen und Bewohnern Zutritt zu einer Welt zu verschaffen, in der immer noch viel zu wenige ältere Menschen in Deutschland unterwegs sind: der Welt der digitalen Medien. So nutzen laut einer Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest heute zwar vier von fünf Menschen zwischen 60 und 69 Jahren das Internet täglich. Allerdings sinkt der Anteil der Affinen mit zunehmendem Alter rapide; von den über 80-Jährigen etwa ist immer noch die Hälfte gar nicht online. Nur knapp jeder Vierte ab 60 Jahren attestiert sich zudem selbst gute oder sehr gute Computerkenntnisse. Noch geringer schätzen die Seniorinnen und Senioren ihre Kompetenz im Umgang mit mobilen digitalen Geräten ein.

Ob das auch auf Thomas Schacherers „Schülerinnen und Schüler“ zutrifft? Zwölf sind an diesem hochsommerlichen Donnerstag in die Cafeteria der Seniorenresidenz gekommen, auf den Tischen vor ihnen reiht sich Smartphone an Tablet. Thema des Kurses sind heute sichere Passwörter, deshalb auch die Sache mit dem Costa-Rica-Urlaub. Die Teilnehmenden sollen sich, wenn sie ihre persönlichen Daten im Netz mit einem Passwort schützen müssen, einfach einen eingängigen Satz ausdenken und die Anfangsbuchstaben der Wörter darin aneinanderreihen. Heraus kommt dann zum Beispiel „MsUw1985iCR!“. Und das ist nur eine von vielen Methoden, die Kursleiter Schacherer vorstellt. „Je mehr Abwechslung im Passwort steckt, desto sicherer ist es“, ruft er. Und schickt eine Warnung gleich hinterher: „Es wird Sie niemals jemand anrufen und Ihr Passwort erfragen. Auch nicht per E-Mail. Wenn das passiert, dann ist es immer ein Betrüger!“

Anne Borzi bereitet das keine Sorge. Im Umgang mit Passwörtern fühlt sie sich sicher. „Und wenn ich mal eins vergess’, dann bestell’ ich mir ein neues“, sagt sie und lacht. Gekommen ist sie heute ohnehin mit einem ganz anderen Problem: Sie will Fotos von ihrem Handy auf ihr Tablet überspielen und weiß nicht wie. „Früher haben mir bei solchen Fragen zwei Jungs aus der Nachbarschaft geholfen, aber die sind jetzt weggezogen.“ Auch Regina Hornberger, die im Mai 90 geworden ist, kämpft noch ein wenig mit ihrem ersten Tablet – einem Geburtstagsgeschenk der Kinder. Sie will lernen, wie sie ihrer Tochter per Messenger Fotos schicken und die Nachrichten mit passenden Emojis garnieren kann. „Das geht mit dem Gerät ja schneller, als wenn ich einen richtigen Brief schicken würde“, weiß sie. Gut, dass Thomas Schacherer und seine beiden Kollegen nach dem einleitenden Vortrag genügend Zeit mitgebracht haben, um von Tisch zu Tisch zu gehen und jede individuelle Frage zu beantworten. Alle drei sind selbst schon Ruheständler und engagieren sich bei Digital dabei, einem Gemeinschaftsprojekt der Fachstelle für digitale und soziale Teilhabe des Sozialamtes der Stadt Stuttgart und der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK). Darin geben umfassend geschulte Ehrenamtler ihr Anwenderwissen an Senioren weiter. „Die Förderung von Medien- und Digitalkompetenz wird oft nur als Thema für Kinder und Jugendliche betrachtet. Dabei betrifft es insbesondere auch Senioren“, sagt Sabrina Wangenheim, die Digital dabei bei der Stadt Stuttgart leitet. Je stärker die Digitalisierung ihres Lebensraums voranschreite, desto mehr Herausforderungen würden sich ihnen im Alltag stellen. „Schließt die nächstgelegene Bankfiliale, sind ältere Menschen plötzlich auf Onlinebanking angewiesen. Auch Eintrittskarten für Kulturveranstaltungen kann man seit der Coronazeit häufig nur noch im Netz kaufen“, sagt Wangenheim. Genau diesen Herausforderungen begegne das Angebot, indem es Seniorinnen und Senioren befähige, selbstständig mit digitalen Geräten und Anwendungen umzugehen.
 

Medienkompetenz betrifft vor allem auch Senioren.
Sabrina Wangenheim


Der Entwicklungspsychologe Professor Herbert Scheithauer, der an der Freien Universität Berlin unter anderem zu Cybermobbing forscht, plädiert für eine systematische Förderung der Medienkompetenz auch bei Erwachsenen. Damit sie selbst digital fit werden und bleiben, aber auch, um junge Menschen unterstützen zu können. Eine der wichtigsten Zielgruppen seien daher Eltern. „Die kümmern sich nämlich oft nicht um die Mediennutzung ihrer Kinder, weil sie sich selbst bei dem Thema zu wenig zutrauen.“ Damit entzögen sie sich aber ihrer Verantwortung – und unterschätzten ihre Bedeutung als Rollenvorbilder: „Medien sind etwas, das Eltern und Kinder gemeinsam entdecken müssen, worüber sie auch in den Dialog miteinander gehen müssen.“

Genau das ist der Ansatz bei Eltern-LAN, einem Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). LAN – das klingt nach LAN-Party, nach vernetzten Rechnern in Turn- und Messehallen und nach Jugendlichen, die früher zu Hunderten oder sogar Tausenden ganze Wochenenden durch gemeinsam Computerspiele zockten. Und tatsächlich gibt es das Projekt schon seit 2008, als diese Veranstaltungen ein Massenphänomen waren und Eltern deswegen Sorgenfalten auf der Stirn standen. Was treibt mein Kind da eigentlich genau, wenn es auf solchen Partys ist oder stundenlang in seinem Zimmer vor der Konsole hockt? Und was macht dieser exzessive Konsum von Computerspielen mit ihm? Die Eltern-LAN-Workshops, die Schulen bundesweit für ihre Elternschaft buchen können, bieten Antworten auf diese Fragen.
 

Ältere Erwachsene sitzen vor Laptops
In den Workshops des Projektes „Eltern-LAN“ setzen sich Erwachsene mit Computerspielen auseinander, welche ihre Kinder in der Freizeit spielen (Foto: Sascha Kreklau).


„Ob Computerspiele gewalttätig machen, war damals ein großes Thema. Nicht zuletzt wegen der vielen Schul-Amokläufe“, sagt der Sozial- und Medienpädagoge Tim Clemenz. Er selbst absolvierte gerade sein Praxissemester in Ludwigsburg, als am 11. März 2009 im nur wenige Kilometer entfernten Winnenden ein 17-Jähriger an einer Schule 15 Menschen erschoss. Schnell schien vielen die Ursache klar, denn der Täter hatte eine Vorliebe für „Counter-Strike“ und andere sogenannte Killerspiele. Tim Clemenz, passionierter Gamer seit Kindheitstagen, prägte das Ereignis – und er beschloss, sich in der Präventions- und Aufklärungsarbeit zu engagieren. Im Netz stieß er auf das bpb-Projekt. Seit 2011 leitet er Eltern-LANs in ganz Süddeutschland.

Darin thematisiere er zwar immer auch die Gefahren, die es beim Spielen unbestreitbar gibt – etwa Gewaltdarstellungen, exzessiver Konsum, Cybermobbing, versteckte Kosten und mangelnder Datenschutz. Allerdings gehe es ihm zunächst darum, eine möglichst neutrale Sicht auf die Dinge zu vermitteln. „Wir wollen den Eltern Orientierung geben, sodass sie nachher in der Lage sind, einen informierten Dialog mit ihren Kindern über Computerspiele zu führen und gemeinsam zu entscheiden, wie sie damit in der Familie umgehen wollen.“

Eine Besonderheit der Veranstaltungsreihe ist dabei, dass die Teilnehmenden nicht nur Fragen stellen und zuhören, sondern auch selbst zocken sollen. Die notwendigen Gaming-PCs mit Titeln aus verschiedenen Genres, darunter Rennspiele und Ego-Shooter, stellt die bpb den Schulen zur Verfügung. „Dann merken sie erst mal, wie herausfordernd das ist, sich per Tastatur und Maus in einem dreidimensionalen Raum zu bewegen, den sie auf dem Bildschirm aber nur zweidimensional sehen. Das ist Hochleistung fürs Hirn“, erklärt Medienpädagoge Clemenz begeistert. Tatsächlich belegen heute viele Studien die positiven Effekte des „Daddelns“ auf Kopf und Körper, während die Gewaltdebatte der Neunziger- und Nullerjahre eher in den Hintergrund getreten ist.
 

Porträtfoto von Tim Clemenz
Will Eltern Orientierung in Sachen Gaming geben: Medienpädagoge Tim Clemenz (Foto: Wolfram Scheible).


Letztlich seien Games ein Hobby wie viele andere auch, findet Tim Clemenz. „Ich kann selber spielen, kann zusammen mit anderen spielen, kann anderen beim Spielen zuschauen, ich kann Spiele-Zeitschriften lesen, es gibt Wettbewerb und Rivalität, es gibt Gemeinschaft – eigentlich sind das genau dieselben Phänomene, die man zum Beispiel auch beim Fußball hat.“

In der Seniorenresidenz Hohentwiel in Stuttgart stehen derweil andere Themen im Vordergrund. „Ich glaub’, für Computerspiele bin ich zu alt“, sagt Anne Borzi. Ihren PC zu Hause nutzt sie lieber, um E-Mails zu schreiben. Mit dem neuen Smartphone kommuniziert sie hingegen über Messenger-Dienste, verschickt Fotos und vertieft ihr Italienisch mit einer Übersetzungs-App. Nicht immer klappe in der digitalen Welt alles auf Anhieb. So wie eben beim Kopieren ihrer Fotos vom Handy aufs Tablet, als auf dem Bildschirm eine Fehlermeldung aufpoppte und nicht wieder verschwinden wollte. Doch im Alltag häufen sich die kleinen Erfolgserlebnisse. „Dann freu’ ich mich immer, dass ich was geschafft hab’, ohne jemanden fragen zu müssen“, sagt die bald 80-Jährige und strahlt. Um kompetent mit Medien umgehen zu können, ist man eben nie zu alt.
 

Sich per Tastatur und Maus in einem dreidimensionalen Raum zu bewegen – das ist Hochleistung fürs Hirn.
Tim Clemenz


Dieser Artikel ist in Ausgabe Nr. 14 unseres Bildungsmagazins sonar zum Thema „Medienkompetenz“ erschienen.


Medienkompetenz für Jung und Alt

Unzählige Projekte setzen sich dafür ein, dass junge Menschen, aber auch Pädagogen, Eltern und Senioren, lernen, sicher und klug mit digitalen Medien zu agieren. Die Themenvielfalt reicht von Cybermobbing-Prävention bis hin zum Verstehen von Algorithmen. Eine Auswahl.

Kleine Helden, große Wirkung
Das Programm Digitale Helden bildet Schüler der Mittelstufe zu Mentoren aus, die anschließend ihr Wissen an jüngere Schüler weitergeben. So wird das Thema Medienkompetenz langfristig an Schulen verankert. Auf der Website der gemeinnützigen Organisation finden sich auch Unterrichtseinheiten für Lehrkräfte und Webinare für Eltern.
digitale-helden.de

Faktencheck für Schüler
Das Netz ist voll von Desinformation und Falschmeldungen. Doch wie erkennt man, welche Nachricht wahr ist und welche nicht? Dabei hilft das Bündnis Journalismus macht Schule: Journalisten verschiedener Medienhäuser gehen auf Anfrage in Schulklassen, erklären dort, wie man Fake News erkennt, und geben Einblicke in ihr Handwerk.
journalismus-macht-schule.org

Medienmeister oder Digitaldilettant?
Mit dem Digital-Check NRW können Nutzer jeden Alters herausfinden, wie fit sie schon im Umgang mit digitalen Medien sind. Der Onlinetest ist in sechs Kompetenzbereiche gegliedert. Sind alle Fragen eines Moduls beantwortet, spuckt der Rechner das Ergebnis aus – verbunden mit einer Auflistung passender Weiterbildungsangebote.
digitalcheck.nrw

Digitale Fairness fördern
Das Präventionsprogramm Medienhelden der Freien Universität Berlin sensibilisiert Schüler der Klassen 7 bis 10 für das Thema Cybermobbing. Zum Einsatz kommen dabei moderne pädagogische Ansätze wie Peer-to-Peer oder auch Peer-to-Parent. Bei Letzterem organisieren die Schüler einen Elternabend, denn effektive Cybermobbing-Vorbeugung kommt nicht ohne die Unterstützung der Eltern aus.
medienhelden.info

Hilfe bei digitalem Überfluss
Das Informationsportal webcare+ widmet sich insbesondere dem Problem der exzessiven Mediennutzung. Betroffene, aber auch deren Angehörige und pädagogisches Personal finden dort professionelle Unterstützung, zum Beispiel in Form von Webinaren. Im Servicebereich sind jede Menge Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen gelistet.
webcare.plus

Datenschutz spielerisch lernen
Das Projekt KryptoKids entwickelt Abenteuerspiele zu digitalen Themen für Kinder ab acht Jahren. Darin geht es um Datenschutz und Privatsphäre, um Demokratiebildung und um Extremismus-Prävention. Gespielt wird über eine App. Für pädagogische Fachkräfte gibt es ausführliches Begleitmaterial.
krypto-kids.de

Neue Leselust
Die rund 100 media.labs der Stiftung Lesen in ganz Deutschland sollen Jugendlichen und jungen Erwachsenen (wieder) Lust auf Geschichten und aufs Lesen machen. Das klappt am besten mithilfe von digitalen Medien, weil diese ohnehin ihren Alltag prägen. Im media.lab Neu-Ulm etwa produzieren die Teilnehmer Hörspiele und kreieren Comics am PC.
leseclubs.de/medialabs

Ich kann Medien!
Im Projekt Ich kann was! der TelekomStiftung steht die aktive Medienarbeit im Vordergrund. Kinder und Jugendliche sollen einen kreativen und zugleich reflektierten Umgang mit Medien und der digitalen Welt erlernen. Mehr als 500 Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit bundesweit machen bereits bei Ich kann was! mit.
telekom-stiftung.de/ikw

Nicht weggucken!
Der Onlineratgeber Schau hin! informiert Eltern über aktuelle Trends in der Medienwelt und liefert alltagstaugliche Tipps, wie sie den Medienkonsum ihrer Kinder kompetent begleiten können. Dazu gibt’s jede Menge Hintergrundwissen zu Themen wie Smartphone und Tablet, Social Media, Games & Co.
schau-hin.info