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Brauchen wir in Zukunft überhaupt noch Lehrer?

Lesezeit: 4 Minuten
Porträt von Thomas de Maizière
©

Thomas de Maizière über seine Diskussion mit dem indischen Bildungsforscher Sugata Mitra

Wissen Sie, was man in der Wirtschaft unter der „Just in time“-Methode versteht? Vereinfacht gesagt, geht es darum, dass die Materialien und Rohstoffe für eine Ware erst dann ins Werk geliefert werden, wenn der Kunde die Ware bestellt hat. So spart der Produzent die Lagerkosten, und der gesamte Wertschöpfungsprozess bleibt schlank. Erfunden haben „Just in time“ die Japaner für ihre Autoindustrie, so viel wusste ich noch. Was ich allerdings bislang nicht wusste: Man kann die Methode auch aufs Lernen beziehen. Erklärt hat mir das kürzlich der indische Bildungsforscher Sugata Mitra, den ich bei einer unserer Veranstaltungen getroffen habe. Und da ich mich als Vorsitzender der Telekom-Stiftung seit gut einem halben Jahr sehr intensiv mit Bildung beschäftige, fand ich das ziemlich spannend.

Im Prinzip kritisiert Mitra, wie heute an unseren Schulen Wissen vermittelt wird. Unsere Welt sei so unvorhersehbar, findet er, dass kein Mensch sagen könne, was ein junger Mensch in zehn oder auch nur fünf Jahren werde wissen müssen. Trotzdem halte Schule starr an den immergleichen Lehrplänen fest. Mitra nennt das die „Just in case“-Methode: Der Lehrer bringt seinen Schülern bei, wie man eine quadratische Gleichung löst, nur für den Fall, dass ihnen dieses Problem irgendwann in ihrem Leben noch einmal begegnet. Mitra hält das für Vergeudung.
 

Von "Just in case" zu "Just in time"

Er fordert stattdessen, von „Just in case“ auf „Just in time“ umzustellen: Statt wahllos Wissen in die Schüler hineinzustopfen, sollten die Lehrer ihnen lieber beibringen, wie sie sich dieses Wissen im Fall der Fälle schnell selbst aneignen können. Mit anderen Worten: Er schlägt vor, die Schüler zu Google-Profis zu erziehen. Seine Botschaft an sie: „Wann immer ihr im Leben auf etwas stoßt, das neu für euch ist, habt keine Angst! Alles, was ihr braucht, um damit umzugehen, ist das Internet.“

Nur zur Erläuterung: Professor Mitra ist international bekannt geworden mit der These, Kinder und Jugendliche könnten sich theoretisch alles selbst beibringen, wenn man sie in der Schule nur grüppchenweise vor Computer mit großen Bildschirmen und Internetanschluss setzt. Solche Settings, die er „selbstorganisierte Lernumgebungen“ nennt, hat er auf der ganzen Welt ausprobiert. Und ich muss zugeben, die Ergebnisse sind wirklich beeindruckend. Überall waren die Schüler in der Lage, ohne Vorkenntnisse teils schwierige Aufgaben zu lösen und sich komplexe Sachgebiete zu erschließen. (Wer mehr über Mitras Experiment wissen will, der sollte sich diesen Vortrag anhören, mit dem er 2013 den renommierten TED Prize für seine Idee gewonnen hat.) Und dennoch habe ich zwei Probleme mit Mitras These:

  1. Wissen im Internet zu recherchieren – das ist doch noch lange kein Lernen, geschweige denn Bildung. Wer sagt mir denn, dass die Schüler am Ende wirklich etwas verstanden, das Thema wirklich durchdrungen haben? Von Google und Wikipedia ist vielleicht schon mancher schlau geworden, aber ganz bestimmt noch niemand klug!
  2. Wo bleiben die Lehrer? Die kommen nämlich in Mitras Experiment, wenn überhaupt, nur noch als Stichwortgeber vor. Er schreibt sogar, sie würden den Lernfortschritt behindern, wenn sie stärker eingriffen. Dabei haben doch zahlreiche Studien – am bekanntesten sicherlich die Meta-Studie von John Hattie – nachgewiesen, wie wichtig die Lehrkraft für den Lernprozess der Schüler ist, nicht zuletzt wegen ihrer sozialen Funktion.

Ich war dann einigermaßen erleichtert, als Professor Mitra mir zumindest in meinem zweiten Punkt zugestimmt hat. Ja, es müsse natürlich auch in Zukunft Lehrer geben. Seiner Meinung nach müssten diese ihren Unterricht aber grundlegend ändern. Statt immer nur vorhandenes Wissen weiterzugeben, sollten sie sich lieber dem widmen, was wir heute noch nicht wissen. Also den großen Fragen und Herausforderungen unserer Zeit. Das sei für die Schüler doch viel spannender und motivierender.

Ich muss sagen, komplett überzeugt hat mich der Professor mit seiner These am Ende nicht. Wenngleich manches an seiner Idee wirklich bedenkenswert ist. Zum Beispiel sein Argument, dass selbstorganisiertes Lernen den Lehrerberuf wieder interessanter mache. Statt ständig Unterrichtsstunden planen, Arbeitsblätter und Klausuren vorbereiten zu müssen, stupse der Lehrer seine Schüler einfach mit einer klugen Recherchefrage an – den Rest erledigten diese dann selbst. So bliebe ihm wieder mehr Zeit, darüber nachzudenken, was er den Kindern wirklich vermitteln wolle. Da ist doch was dran, finden Sie nicht?