Anders prüfen, anders lernen

Die Gespräche in vielen Familien ähneln sich in diesen Tagen, kurz vor Beginn der großen Schulferien: Es geht um Prüfungen, gute oder schlechte Leistungen, Noten. Und es geht immer um die Einzelne oder den Einzelnen und um das, was sie oder er in einem bestimmten Fach in einem bestimmten Zeitraum gelernt hat - oder eben nicht. Aber kann man eigentlich erworbene Kompetenzen – um die soll es ja eigentlich in der Schule gehen - fair, objektiv und vergleichbar in Noten ausdrücken? Oder beschreiben Noten nur den zu einem bestimmten Zeitpunkt auswendig gelernten “Unterrichtsstoff?” Was ist mit Kompetenzen wie Kommunikations- und Teamfähigkeit oder Urteilsvermögen? Die Beurteilung dieser oft als Schlüsselkompetenzen für das Leben und Arbeiten in einer immer stärker digitalisierten und komplexeren Welt bezeichneten Fähigkeiten kommt in unserem System bislang definitiv zu kurz. Deswegen bin ich der Meinung: Nur wenn wir in Zukunft Leistungen und Kompetenzen anders prüfen, kommen wir zu neuen Wegen des Lehrens und Lernens an unseren Schulen. Und dass das notwendig ist, um junge Menschen nicht nur fit für die Zukunft, sondern für ihr Leben heute zu machen, bestreitet wohl kaum jemand.
Warum halten wir an den bisherigen Prüfungsformaten fest? Aus meiner Sicht vor allem die Vorstellung, dass eine Lehrkraft Leistung objektiv und fair auf einer Notenskala von 1 bis 6 beurteilen kann, wenn sie ihrer Klasse zum selben Zeitpunkt den gleichen Test mit den gleichen Aufgaben vorlegt und ihnen dafür die gleiche Bearbeitungszeit gewährt. Stimmt das? Meine Antwort darauf ist ein klares Nein. Die Schülerinnen und Schüler einer Klasse werden niemals alle auf dem gleichen Leistungsstand sein, und wenn sie im Unterricht noch so gut aufpassen und ihre Lehrkräfte noch so sehr darum bemüht sind, jede und jeden im Stoff „mitzunehmen“. Leistung ist immer subjektiv und hängt von den unterschiedlichsten Einflüssen ab: von individuellen Potenzialen, von der Schul- und Unterrichtsqualität, von den Lehrkräften, von Interesse und Motivation des Kindes und davon, wie schnell es neue Dinge auffasst, von den persönlichen und privaten Umständen. Es ließen sich noch unzählige Faktoren auflisten. Und trotzdem gehen wir weiterhin davon aus, dass wir Schülerinnen und Schüler, nur weil sie im selben Unterricht saßen, anhand eines Tests oder einer Klassenarbeit objektiv beurteilen und miteinander vergleichen können.
Eine neue Prüfungskultur müsste es aus meiner Sicht schaffen, die Heterogenität von Kindern und Jugendlichen besser zu erfassen. Das könnte gelingen, wenn wir das Prüfen der Leistung flexibler gestalten – zum Beispiel durch „asynchrone“ Formate. Das heißt, jedes Kind schreibt den Test oder die Klassenarbeit erst dann, wenn es sich bereit dazu fühlt und die nötigen Kenntnisse erworben hat. Darüber hinaus bin ich ein Fan von Gruppenprüfungen. Sie eignen sich vor allem, um die schon erwähnten Kompetenzen des 21. Jahrhunderts zu stärken. Aufgaben werden dabei im Team gelöst. Die Schülerinnen und Schüler lernen, individuelle Stärken einzubringen, auf die Beiträge anderer einzugehen und gemeinsam zu einem Ergebnis zu kommen. Gleichzeitig entwickeln sie Verantwortungsbewusstsein, da die eigene Leistung das Gesamtergebnis der Gruppe beeinflusst. Und genau das sind auch Kompetenzen, die wir auf dem Arbeitsmarkt dringend brauchen!
Neue Prüfungsformate sollten auch der Digitalisierung Rechnung tragen. Junge Menschen wachsen mit Smartphone und Tablet auf, nutzen in ihrem Alltag generative KI-Anwendungen ohne Berührungsängste. Diese Realität spiegelt sich in der Prüfungskultur kaum wider. Ich meine: Wir sollten uns endlich trauen, digitale Hilfsmittel in Prüfungen kontrolliert zuzulassen, etwa für begrenzte Recherchezeit im Internet während einer Klausur oder für die Nutzung von KI zur Lösung komplexer naturwissenschaftlicher Fragen. Die Jugendlichen müssten dann erklären, warum sie eine bestimmte, von der KI angebotene Lösung genutzt und eine andere verworfen haben. Entscheidend für die Bewertung wäre also, wie kritisch, reflektiert und kompetent sie mit den KI-Vorschlägen umgehen – und nicht, ob sie die „richtige“ Antwort geben.
Die hier genannten Beispiele für neue Prüfungsformate sind nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was möglich wäre. Viele Akteure aus Schulpraxis und Bildungsforschung beschäftigen sich seit Jahren intensiv mit dieser Thematik und entwickeln Ansätze, die weit über meine Vorschläge hinausgehen. Besonders hervorheben möchte ich das Institut für zeitgemäße Prüfungskultur, das auf seiner Website erprobte Beispiele aus der Schulpraxis sammelt. Diese Sammlung zeigt eindrucksvoll, dass positive Veränderungen in der Prüfungskultur bereits heute möglich sind – und zwar im Rahmen der bestehenden Schulgesetzgebung. Es gibt Spielräume und Grauzonen, die viele engagierte Lehrkräfte und Schulleitungen nutzen.
Diese Entwicklung stimmt mich zuversichtlich, denn ein Kulturwandel, wie ihn eine grundlegende Reform der Leistungserbringung und -beurteilung darstellt, muss von vielen getragen werden: von der Politik, den Schulleitungen und Lehrkräften, den Schülerinnen und Schülern und auch von der Gesellschaft insgesamt.
Am Ende geht es um mehr Bildungsgerechtigkeit. Wir brauchen ein Prüfungssystem, in dem jedes Kind mit seinem Potenzial und seiner individuellen Entwicklung zählt.
Eine gekürzte Version dieses Textes ist am 10. Juli 2025 in „DIE ZEIT“ erschienen. Eine vollständige Analyse von Jacob Chammon zum Thema findet sich in Ausgabe 2/2025 von „Pädagogische Führung (PädF). Zeitschrift für Schulleitung und Schulberatung“ (Wolters Kluwer Deutschland).