„Es muss sich eine Vertrauenskultur etablieren.“
2010 startete das Projekt Mathe sicher können, weil internationale Vergleichsstudien wie PISA gezeigt hatten, dass viele Kinder und Jugendliche an nicht-gymnasialen Schulformen nur unzureichende Mathematikkompetenzen besitzen – während gleichzeitig erfolgreiche Mathematik-Projekte in der Grundschule positive Ansätze aufgezeigt hatten. Mit Unterstützung der Telekom-Stiftung wurden in dem Vorhaben bis 2021 sehr erfolgreich Unterrichtsmaterialien für leistungsschwächere Kinder entwickelt und Multiplizierende für die Lehrkräftefortbildung geschult.
Inzwischen läuft das Vorhaben unter dem Dach des Deutschen Zentrums für Lehrkräftebildung Mathematik (DZLM) und hat sich stetig weiterentwickelt. Mit Mathe sicher können Plus (MSK Plus) wird das Projekt um den Aspekt der datengestützten Schul- und Unterrichtsentwicklung erweitert. Im Interview erläutert Projektleiterin Professorin Susanne Prediger von der Technischen Universität Dortmund und vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN), worum es bei MSK Plus genau geht und welche Vorteile das Vorhaben für die Förderung leistungsschwächerer Kinder und Jugendlichen bietet.
Frau Prediger, wofür steht das Plus in MSK Plus?
Susanne Prediger: Grundsätzlich geht es bei Mathe sicher können darum, dass wir Lehrkräfte dabei unterstützen wollen, die mathematischen Basiskompetenzen ihrer Jugendlichen besser zu sichern. Das Plus hat drei Standbeine: Erstens gehen wir jetzt in Sachen Digitalisierung die nächsten Schritte. Zweitens erweitern wir das Projekt thematisch und drittens schaffen wir neue systemische Verankerungen.
Bei der Digitalisierung geht es uns vor allem darum, die Lehrkräfte durch digitale Elemente wie Erklärvideos oder dynamische Visualisierungen zu unterstützen. Mit letzteren lassen sich wichtige mathematische Konzepte wie beispielsweise der Zahlenstrahl veranschaulichen. Und: Wir erweitern die digitalen Diagnosen, die es im Projekt schon gibt. Mit dem MSK-Online-Check erfassen wir Kompetenzen und Lernfortschritte der Kinder. Solche Checks mussten Lehrkräfte vorher selbst auswerten. Nun übernimmt das weitgehend die Diagnoseplattform, und Lehrkräfte erhalten detaillierte Informationen darüber, welche mathematischen Lernbedarfe ein Kind hat. Über so genannte digitale Dashboards können die Diagnosen künftig nicht nur mit dem Fachteam an der Schule geteilt werden. Sie zeigen auch, was ein Kind als nächstes lernen sollte. Wir haben empirisch nachgewiesen, dass Lehrkräfte auf dieser Grundlage treffsicherere Entscheidungen in der Förderung treffen. Das lohnt sich also.
Die thematische Ausweitung bedeutet, dass wir nun auch erste Materialien für die Klassen 7 bis 10 entwickeln. Bisher richtete sich Mathe sicher können an die Klassenstufen 3 bis 6.
Als systemische Verankerungen suchen wir nach Möglichkeiten, die kollegiale Zusammenarbeit an den Daten anzustoßen. Nicht mehr nur eine einzelne Lehrkraft kann mit den Daten arbeiten, sondern auch ihr Fachteam in der Schule. In datengestützte Dialoge können auch die Schulleitung und sogar die Schulaufsicht einbezogen werden.
Sie sprechen den Austausch zwischen verschiedenen Ebenen an, die im Bildungssystem Verantwortung für Schule tragen. MSK Plus soll genau den verbessern. Welche Vorteile hat das und wie wirkt sich das auf die Unterrichtsentwicklung und die Unterrichtsqualität aus?
Susanne Prediger: Voraussetzung ist zunächst einmal, dass sich eine Vertrauenskultur etabliert, in der alle Beteiligten sich einig sind, dass es bei der datengestützten Unterrichtsentwicklung nicht darum geht, irgendjemanden zu sanktionieren, sondern sich gegenseitig zu unterstützen. Wir haben mit Schulleitungen gesprochen, die uns sagen, dass sie nicht mit ihren Lehrkräften über deren Ergebnisse sprechen, um sie nicht bloßzustellen. Das ist falsch verstandene Autonomie und lässt die Lehrkräfte allein. Wir wollen, dass alle Beteiligten – Lehrkraft, Fachteam, didaktische Leitung, Schulleitung und auch die Schulaufsicht – über die erhobenen Daten ins Gespräch kommen. Wir wollen, dass mit Daten so gearbeitet wird, dass Lehrkräfte langfristige Strategien zur Verbesserung ihres Unterrichts entwickeln können. Andere Länder zeigen: Ohne die Kooperation von Lehrkräften zum Fach gibt es nur schwerlich nachhaltige Unterrichtsentwicklung. In Deutschland glauben wir immer noch, das kann jeder einzeln. Diese Kultur ein bisschen zu ändern, das ist unser – zugegebenermaßen – ambitioniertes Ziel.
Der Austausch von Leistungsdaten ist mit Blick auf den Datenschutz immer eine Art “heißes Eisen”. Wie gehen Sie bei MSK Plus mit dem Thema um?
Susanne Prediger: Datenschutz ist ohne Frage absolut wichtig. Darauf haben Kinder und ihre Erziehungsberechtigten ein Recht. Daher haben unsere Partner am DIPF* und im FWU** für die Plattform ein Pseudonymisierungsverfahren entwickelt, so dass bei MSK Plus keine Klarnamen der Lernenden und Lehrkräfte weitergegeben werden. Beim Online-Check sehen die Lehrkräfte, um welches Kind in der Klasse es sich handelt, aber alle anderen Ebenen nicht. Hier wird dann mit IDs gearbeitet. Noch in Klärung ist, welche Daten bei MSK Plus genau an die nächsthöhere Ebene gehen werden, da sprechen auch die Personalräte mit. Die Frage wird man vielleicht auch nicht in jedem Bundesland gleich beantworten.

Als gute Vorbilder in Sachen datengestützte Schul- und Unterrichtsentwicklung gelten z.B. Kanada oder die Niederlande. Was machen diese Länder anders und was können wir lernen?
Susanne Prediger: Kanada hat sehr gute formative Assessments, also nicht nur Breitbandtests, sondern kleine, fokussierte Tests, die zeigen, wo ein Kind zu einem fachlichen Thema gerade steht. Und sie haben etablierte Dialogformate, mit deren Hilfe über die erhobenen Daten kommuniziert wird. Dabei geht es nie darum, was irgendjemand kann oder nicht. Es geht vielmehr darum, welche Unterstützung nötig ist, damit Leistungen der Lernenden oder die Lernfortschritte ganzer Klassen besser werden. Also keine Defizitorientierung, sondern Förderorientierung, das ist sehr wichtig.
In den Niederlanden gibt es ein breit verfügbares Fortbildungsangebot zur datengestützten Unterrichtsentwicklung. Das können sich Schulleitungen und Lehrkräfte in die eigene Schule holen und müssen das Rad nicht neu erfinden.
In MSK Plus arbeiten Sie mit zunächst drei Bundesländern, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, zusammen. Können die Ergebnisse und die erhobenen Daten später auch von anderen Ländern beziehungsweise länderübergreifend genutzt werden?
Susanne Prediger: Grundsätzlich haben sich alle Bundesländer verpflichtet, dass sie ihre Schulen besser dabei unterstützen wollen, die mathematischen Basiskompetenzen zu stärken. Dabei können wir mit Mathe sicher können helfen und tun das auch schon. Dass man mehr erreichen kann, wenn Daten erhoben und ausgewertet werden können, haben die drei Länder, mit den wir jetzt kooperieren, sehr gut verstanden. Alle drei sind hoch motiviert, starten allerdings auch mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Nun gehen wir die nächsten Schritte im Prozess gemeinsam und lernen, worauf wir achten müssen. Nach einer ersten Erprobungsphase mit den drei Ländern sind wir offen für alle, die Lust haben, mit uns an erfolgreicher datengestützter Schul- und Unterrichtsentwicklung zu arbeiten.
*DIPF = Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation
**FWU = Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht