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„Jetzt wird es wirklich Zeit!“

Lesezeit: 5 Minuten
Schulklasse
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Drei Vorschläge für spürbare Verbesserungen im Bildungssystem. Von Thomas de Maizière und Ekkehard Winter

Vor 60 Jahren rief der Philosoph und Pädagoge Georg Picht den “Bildungsnotstand“ aus. Vor zwanzig Jahren erlebte Deutschland den PISA-Schock. Und vor drei Jahren traf die Coronapandemie das Bildungssystem und damit unsere Kinder und Jugendlichen besonders hart. In allen drei Fällen waren die Rufe nach durchgreifenden Reformen und besserer Bildung laut. Haben sich entscheidende und dauerhafte Verbesserungen ergeben? Offenbar nicht, wenn man sich aktuelle Vergleichsstudien und Befunde anschaut. Hier sehen Experten langfristige negative Trends, unter anderem was die Grundkompetenzen von Schülerinnen und Schülern angeht. Wir stehen also in Deutschland vor den Trümmern eines nicht reformfähigen oder -willigen Bildungssystems. 

Im Zentrum dieser Katastrophe stehen vor allem unsere Schulen, denn sie sind nach wie vor die zentralen Lernorte für junge Menschen. Kinder und Jugendliche haben ein „Recht auf schulische Bildung“. So hat es das Bundesverfassungsgericht im November 2021 formuliert. Dazu gehört auch die Einhaltung von unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten. Dieses Recht umzusetzen, muss jetzt die Aufgabe aller Beteiligten in Bund, Ländern, Kommunen und Schulen sein. Nur so werden wir uns einem erneuten Bildungsnotstand wirksam entgegenstellen können.

Dabei gilt es nun vor allem, mit der seit langem und immer wieder diskutierten Föderalismusreform im Bildungsbereich zu beginnen. Einen Flickenteppich an gemischten und getrennten Zuständigkeiten wie er derzeit existiert, kann niemand wollen und er führt auch nicht zum Erfolg. Im Gegenteil – siehe oben. Eine solche Reform einzuleiten, heißt aber nicht, nur auf die ungewissen Ergebnisse zu warten, sondern auch mit dem gegebenen verfassungsrechtlichen Rahmen unverzüglich zu tun, was heute schon möglich ist. Unsere Kinder haben keine Zeit, unser Land hat keine Zeit zu verlieren.

Was aber ist an den Schulen überhaupt möglich, wenn systemische Mängel in der Organisation, in der Steuerung der Bildung in den Ländern und in den Kommunen bestehen, begründet durch die verteilten Zuständigkeiten zwischen Schulaufsicht, Schulträgerschaft und Schulleitung? Gute Schule kann nicht gelingen, wenn an den Schulen selbst Viele zuständig sind, wenn Schulen in Vorschriften ersticken und wenn die Arbeitsbedingungen keine Freiräume ermöglichen.

Bei der Deutsche Telekom Stiftung sehen wir drei wichtige Bereiche für grundlegende organisatorische Veränderungen, die für eine schnelle Verbesserung sorgen können:
 

  1. Mehr Verantwortung für die Schulen:
    Die Dienstherreneigenschaft für das gesamte an Schule tätige Personal gehört in eine Hand. Vorgesetzte für alle Mitarbeitenden an der Schule muss die Schulleitung sein, die das Personal dann auch grundsätzlich selbst auswählt. Nach Bedarf vor Ort muss es dabei auch möglich sein, nicht nur ausgebildete Lehrkräfte, sondern auch Menschen mit anderen Qualifikationen einzustellen, also Quer- und Seiteneinsteiger, Educational Technologists, Verwaltungsmitarbeiter, Schulpsychologen, Sozialarbeiter etc. Eine solche Multiprofessionalität ist für eine moderne Schule unabdingbar und setzt Ressourcen frei. Daher gilt es jetzt, konkrete Modelle vorzuschlagen, um eine solche Entscheidungsverlagerung auf die Einzelschule zu erreichen.

    Mehr verantwortete Freiheit für die Schulen heißt: weniger Vorschriften. Wir schlagen daher vor, alle Vorschriften ab einem bestimmten Datum außer Kraft zu setzen und nur diejenigen neu zu erlassen, die von der Schule als notwendig angesehen werden. Über die Nutzung analoger und digitaler Hilfsmittel wie Schulbücher oder Bildungsangebote im Internet soll von den Schulen vor Ort entschieden werden. Lehrbuchkommissionen u.ä. entfallen ersatzlos. Allenfalls sind einzelne Hilfsmittel von der Schulaufsicht zu untersagen.
     
  2. Mehr Leistungstransparenz und sowohl Aufsicht als auch Unterstützung durch die Bildungsverwaltung:
    20 Jahre nach der Expertise von Bildungsforscher Professor Eckhard Klieme et al. zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards ist festzuhalten, dass die Nicht-Beschäftigung mit bzw. das Nicht-Erreichen von Bildungsstandards, wie sie für die Hauptfächer auf unterschiedlichen Stufen definiert wurden, für Schulen meistens folgenlos bleibt. Die Gegenleistung für die Gewährung großer Freiheiten (s. Punkt 1) muss daher Transparenz über die Leistung der einzelnen Schule sein – insbesondere über die Erreichung von Mindest-, Regel- und Optimalstandards. Bei Problemen muss es natürlich Interventionsmöglichkeiten für die Schulaufsicht/-inspektion geben, d.h. sowohl Feedback als auch Unterstützung. Wie das in der Praxis funktionieren kann, zeigen zum Beispiel die Niederlande mit ihrer langen Tradition der Autonomie von Schulen bzw. regionalen Schulträgern. In Deutschland hat hier der Stadtstaat Hamburg einen erfolgversprechenden Weg eingeschlagen.

    Wir wollen, dass jede Schule ihre Lernergebnisse und die Umstände ihrer Zielerreichung jährlich öffentlich macht. Die Ergebnisse sollten künftig aggregiert in der Bildungsberichterstattung von Bund und Ländern dargestellt, ihre Entwicklung über die Zeit nachverfolgt und einer öffentlichen bzw. politischen Diskussion zugänglich gemacht werden.
     
  3. Reform der Lehrkräftearbeitszeitmodelle:
    Dass die Lehrkräftearbeitszeit in Deutschland seit mehr als 100 Jahren unverändert ausschließlich am Lehrdeputat gemessen wird, ist anachronistisch; dies gibt es fast nirgendwo anders. Im geltenden System können Zeitkontingente für Tätigkeiten außerhalb von Unterricht nur über Abminderungsstunden zur Verfügung gestellt werden. Das ist absurd, denn gute Schule ist mehr als nur guter Unterricht!

    Deutschland braucht daher ein neues Arbeitszeitmodell für Lehrerinnen und Lehrer: am besten eine wöchentliche Arbeitszeit wie in allen anderen Berufen auch, mit Anwesenheitsregeln in der Schule und Urlaub. Darüber hinaus brauchen wir mehr Vollzeitlehrkräfte, denn nur so werden wir den dramatischen Lehrkräftemangel in den Griff bekommen. Hier unterstützen wir die Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz vom Januar 2023.

    Mittel- und langfristig geht mit einer Neuregelung der Arbeitszeit auch einher, dass der Arbeitsplatz der Lehrkräfte (und aller sonst an Schule tätigen Personen) das Schulgebäude sein muss, nicht das heimische Arbeitszimmer. So funktionieren dann gemeinsame Unterrichtsentwicklung, Team-Teaching, das Mentoring von Quer- und Seiteneinsteigern oder schulinterne Fortbildungen im Sinne professioneller Lerngemeinschaften besser. Nur so ist eine Schule überhaupt in der Lage, externe Impulse im Allgemeinen und im Besonderen über Fort- und Weiterbildungsprogramme aufzunehmen. Stichwort Fortbildung: Die Mehrzahl der Angebote zur traditionellen Lehrkräftefortbildung hat erwiesenermaßen keine Wirkung mehr. Die hier vorhandenen Ressourcen sollten für eine bedarfsgerechtere Unterstützung der Schulen umgewidmet werden. 


Jenseits pädagogisch notwendiger Maßnahmen sind das drei Vorschläge, die aus unserer Sicht zu einer spürbaren Verbesserung der Schulen führen. Weitere Vorschläge sind willkommen. 

Die Bildungskatastrophe dürfen wir nicht einfach nur hinnehmen. Wir brauchen und haben die Kraft zur Veränderung.