
Zurück in die reale Welt
Suchttherapeut Christian Groß ist überzeugt: Erst wenn die reale Welt nicht mehr attraktiv ist, flüchten junge Menschen dauerhaft in die virtuelle Welt. Er plädiert für mehr Medienbildung und klare gesetzliche Regelungen.
Viele Eltern befürchten, dass die Mediennutzung bei Jugendlichen grundsätzlich negativ zu bewerten ist und zu einer „digitalen Demenz“ führt. Teilen Sie diese Sorge?
Ich sehe das anders. Ich würde es eher eine digitale Anpassungsleistung des Gehirns nennen. Das ist per se nichts Schlimmes. Moderne Medien fördern die Kommunikation, die Menschen sind heute viel umfassender informiert, und die Wissensvermittlung bekommt beispielsweise durch Virtual Reality gerade eine vollkommen neue Qualität. Die Jugendlichen tauschen sich darüber aus, und das fördert zugleich auch die sozialen Bindungen.
Also alles easy mit den digitalen Medien?
Wie bei anderen potenziellen Suchtmitteln wie Alkohol, Zigaretten oder Drogen gilt auch hier: ein geringer Prozentsatz der Menschen bildet eine Abhängigkeit aus und ein weiterer Teil zeigt einen missbräuchlichen Gebrauch. Es ist also kein Massenproblem. Die meisten jungen Menschen gehen mit den Medien angemessen um und finden sich in der realen Welt prima zurecht. Bei Kindern und Jugendlichen müssen wir dennoch besonders aufpassen, denn sie reflektieren ihr Verhalten häufig nicht so kritisch wie Erwachsene.
Wann läuft es schief mit der Nutzung?
Häufig entwickeln junge Menschen ein negatives Selbstbild, weil sie problematische Erfahrungen in der realen Welt gemacht haben. Kurzfristige Ablenkung von Problemen zu suchen, kann durchaus sinnvoll sein. Die virtuelle Welt ermöglicht jedoch eine besonders tiefe und dauerhafte Ablenkung. Diese wird durch die Hersteller von Computerspielen nochmals forciert, indem soziale Faktoren das Verantwortungsgefühl der Spieler wecken sollen, um diese möglichst lange an das Spiel zu binden. Für die Industrie geht es um das „most addictive game“ – das muss uns klar sein. Auch wenn sich die Ursachen einer Suchterkrankung häufig eher in der belasteten Lebenswelt der Betroffenen finden, sollte das Suchtmittel, in diesem Falle die Computerspiele, keinesfalls verharmlost werden. Hier brauchen wir dringend mehr Aufklärung und bessere Reglementierungen.
Ist Mediensucht eine Suchterkrankung wie jede andere?
Im Prinzip ja, allerdings gibt es einige Besonderheiten. Zum einen haben wir im Gegensatz zu anderen Suchtmitteln bei den modernen Medien noch keine wirksamen gesetzlichen Regelungen, was zur Folge hat, dass bereits Kinder mit einem möglichen Suchtmittel in Kontakt kommen und dieses teilweise exzessiv konsumieren. Des Weiteren ist das Bildungsniveau der Betroffenen im Vergleich zu anderen Suchtformen überraschend hoch. Gerade komplexe Computerspiele fordern ein hohes Leistungsniveau und auf internationalen Servern fließende Fremdsprachenkenntnisse. Ein letzter Unterschied betrifft die Lebenswelt der Betroffenen. Bei einer Medienabhängigkeit verschiebt sich diese gänzlich in die virtuelle Welt. Gerade für die spätere Behandlung ist dieses Verständnis von hoher Bedeutung.
Gibt es gute Heilungschancen?
Auf jeden Fall. Besonders da häufig sehr junge Menschen betroffen sind, denen viele Möglichkeiten und Perspektiven im Leben noch offen stehen. Zudem bringen sie häufig eine Vielzahl an Ressourcen mit, die es nun gilt, wieder in der realen Welt einzusetzen.
Was sagen Sie Eltern, die sich Sorgen über die Mediennutzung ihrer Kinder machen?
Eltern verstehen häufig nicht wirklich, was ihre Kinder online tun. Schnell entstehen Konflikte. Die daraus häufig resultierenden Verbote führen zu größer werdender Distanz zwischen Eltern und ihren Kindern. Die Beziehungen verlieren Vertrauen. Genau hier liegt meiner Ansicht nach das Hauptproblem. Es ist wichtig, Interesse für das Kind und das, was es online tut zu zeigen. Hier kann ich viele Informationen erhalten und wieder eine wertschätzende Beziehung zu meinem Kind aufbauen. Eine solche Beziehung ist aus meiner Einschätzung heraus Grundlage für jegliche Veränderungsmotivation. Dennoch brauchen wir auch ein Vielfaches mehr an Aufklärungsarbeit für Eltern, mehr Präventionsprogramme und eine kompetente Medienerziehung in den Schulen. Wir brauchen ein flächendeckendes Beratungs- und Behandlungsangebot, und wir brauchen ein politisches Interesse für das Thema und die damit verbundene gesetzliche Reglementierung.
Christian Groß ist Suchttherapeut mit Schwerpunkt Spielsucht und Medienabhängigkeit an der Bernhard-Salzmann-Klinik in Gütersloh und Vorstandsmitglied im Fachverband Medienabhängigkeit e.V.
Von SMS-Daumen und Tablet-Schultern
Lesen Sie in der zweiten Ausgabe unserer Bildungsmagazins „sonar“ (S. 28) auch einen Artikel über gesundheitliche Probleme, die durch zuviel Mediennutzung entstehen können.
Fotos: ziiinvn/Shutterstock, privat