
Zuhören, verstehen, Vertrauen aufbauen
Anne Vilmar arbeitet in Kassel als Schulseelsorgerin. Ihr Beispiel zeigt, warum es gut ist, wenn Schule sich für andere Berufe öffnet.
Vom Schulpsychologen über Vertrauenslehrer bis hin zum Sozialarbeiter: Längst ist es heute selbstverständlich, dass an unseren Schulen mehr als nur Fachlehrer benötigt werden, um Kinder und Jugendliche auf ihrem Bildungsweg zu begleiten und ihnen die notwendigen Kompetenzen für den Einstieg ins Berufsleben sowie unsere – zunehmend digitalisierte – Lebenswelt zu vermitteln. Ein ganz besonderes Angebot ist fester Bestandteil im Alltag der Oskar-von-Miller-Schule in Kassel. An der beruflichen Schule bietet Anne Vilmar seit fünf Jahren neben evangelischem Religionsunterricht auch Seelsorge an. Möglich ist dieses Beratungsangebot dank der Kooperation zwischen der evangelischen Landeskirche von Kurhessen-Waldeck und der Schulbehörde.
Als sie 2014 die Stellenannonce in der Zeitung las – „Schulseelsorger*in und Religionslehrer*in gesucht“, konnte Anne Vilmar bereits auf 20 Jahre Berufserfahrung als Pfarrerin zurückblicken. Allein elf Jahre hatte sie ihre damalige Gemeinde betreut. Warum also dieser Schritt weg von ihrem erklärten Traumberuf hin zu neuen Herausforderungen? „Nach all den Jahren spürte ich, dass es Zeit für mich war, etwas Neues zu versuchen“, erinnert sich Vilmar. Gründlich informierte sie sich bei ihrem scheidenden Vorgänger, der nun in den Ruhestand wechselte und der ihr den Beruf des Schulseelsorgers mit all seinen vielschichtigen Aspekten schmackhaft machte. Nachdem schließlich auch die Familie grünes Licht gegeben hatte, freute sie sich auf die neue Aufgabe – „insbesondere auf den Kontakt zu den Jugendlichen und jungen Erwachsenen“, betont Vilmar, „denn diese Altersgruppe trifft man leider immer seltener in unseren christlichen Kirchen an.“
Es geht um Lebensfragen und -krisen aller Art
Immer montags, in der Zeit von 8 bis 11:15 Uhr, steht die Tür zu ihrem Beratungsraum allen Interessierten offen. Für eine Schule ist ihr Zimmer erstaunlich gemütlich eingerichtet. Ein großes Strandbild schmückt die Wand; überall stehen Pflanzen; auf dem Tisch warten Süßigkeiten auf die Besucher. Keine Frage, Anne Vilmar ist es wichtig, dass sich die Menschen, die zu ihr kommen, hier wohl fühlen. Und das sind sehr viele: „In der Regel kommen überwiegend Schüler mit der Bitte um ein Gespräch“, erläutert Vilmar. Zusätzlich wenden sich aber auch Lehrerkollegen sowie andere Schulmitarbeiter mit ihren Anliegen an Anne Vilmar. Und das nicht nur zu den festen Sprechstunden: „Natürlich stehe ich darüber hinaus den Schülern und Kollegen die ganze Woche über zur Verfügung, etwa während einer Freistunde oder nach Unterrichtsschluss“, sagt die 56-Jährige. Oft wird sie im Treppenhaus oder Flur im Vorübergehen angesprochen. Im Notfall, bei akuten Problemen oder Handlungsbedarf kann es auch mal vorkommen, dass sie ihren eigenen Unterricht spontan umorganisieren muss. Denn Anne Vilmar unterrichtet „ganz nebenbei“ noch evangelische Religion in zurzeit 25 Klassen in den unterschiedlichen Bildungsgängen. „Manchmal suche ich auch aktiv Schüler in ihren Klassen auf, wenn ich den Eindruck habe, dass ihnen ein Gespräch vielleicht guttäte, und frage sie, ob sie Lust und Zeit zum Reden haben“, schildert Vilmar.
Dabei geht es in der Regel um Lebensfragen und -krisen aller Art: Tod, Trennung, Liebeskummer, Stress in der Ausbildung sowie häufig das Leiden an Erwartungen. Das schließt auch echte Härtefälle mit ein, die sie noch lange nach dem Gespräch intensiv beschäftigen. „Als ein 15-jähriger Schüler mir von der Selbsttötung seines Vaters erzählte und von allem, was sein Leben nun ausmacht, war das mehr als bewegend“, sagt Anne Vilmar. „Mit diesem Jugendlichen habe ich mich mehrmals getroffen und sehe ihn immer noch. Gleiches gilt für Gespräche, in denen Schüler mir von ihren Schuldgefühlen und Versagensängsten erzählen; hier liegen oft tiefgreifende, manchmal auch traumatische Erfahrungen zu Grunde.“
Sie kennt jeden der 500 Schüler mit Namen
Ein Seelsorgegespräch, das bedeutet für Anne Vilmar zuallererst aufmerksam zuhören, sich in die Lage des Menschen hineinversetzen und herausfinden, worin genau das Problem liegt. Dabei geht es ihr weniger darum, Lösungen zu skizzieren oder Handlungsempfehlungen zu geben. „Werde ich nach einem Rat gefragt oder nach meiner Meinung, dann teile ich sie gern und biete meine Sicht als möglichen Weg an“, erklärt Vilmar. „Grundsätzlich ist meine Haltung jedoch die des Zuhörens und Deutens. Manchmal verabreden wir auch nächste Schritte, und bei Bedarf schauen wir nach einer Weile, wie sich der eingeschlagene Weg entwickelt hat.“

Mit der Zeit hat sich Anne Vilmar durch ihr respektvolles, aufmerksames und zugewandtes Auftreten das Vertrauen der Schüler sowie ihrer Lehrerkollegen verdient. Dazu tragen auch vermeintlich kleine Details bei. So macht sich Vilmar beispielsweise die Mühe, sämtliche Namen ihrer Schüler auswendig zu lernen – allein in diesem Schuljahr sind das nicht weniger als rund 500 –, weil sie es wichtig findet, dass sie ihre Schüler persönlich ansprechen kann.
Diese offene und verbindliche Art kommt auch bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen anderer Glaubensrichtungen an. „Meine muslimischen Schüler bringen mir im Religionsunterricht sehr viel Respekt und Wertschätzung entgegen; schön ist es, wenn es zum Austausch über Religionen, Riten, Feste oder Sinnfragen kommt, da können wir alle voneinander profitieren“, erläutert Vilmar, die gezielt den Dialog zwischen den Religionen sucht. So besucht die Lehrerin mit ihren Klassen neben christlichen Kirchen auch Moscheen ebenso wie buddhistischen Gemeinden.
Die Frage, ob sie es nicht doch dann und wann bereut, dass sie ihren einstigen Traumberuf als Pastorin aufgegeben hat, beantwortet Anne Vilmar mit deutlichen Worten: „Auf keinen Fall!“, stellt sie klar, „die Oskar-von-Miller-Schule mit ihren rund 2.000 Schülern und 80 Lehrerkollegen, das ist nun meine Gemeinde.“
Text: Karsten Taruttis; Illustration: Tartila/Shutterstock; Foto: Karin Howe