
Smarte Schule?
Künstliche Intelligenz könnte Schülern das Lernen erleichtern und Lehrkräfte entlasten. Doch es gibt auch Zweifel an der Technologie.
Irgendwann, kurz vor Ende der Stunde, hat Vanessa genug von der triezenden Maschine. „Frau Schröder, das Tablet ärgert mich“, ruft die 15-Jährige leicht genervt und blickt von ihrem Tisch auf. „Ich krieg’ die gleiche Frage jetzt schon zum fünften Mal!“ Das iPad vor ihr zeigt drei altmodische Ziffernblätter an. Auf jedem ist ein anderes Tortenstück rot hervorgehoben: von fünf nach bis viertel nach, von halb bis zwanzig vor, von zehn vor bis halb. Und Vanessa soll die Stücke nun in Minuten übersetzen. Leonie neben ihr hat unterdessen schon alle Aufgaben gelöst und weiß nicht so recht, wohin mit ihrer Energie. Genauso wie Yannik, zwei Reihen dahinter. „Gönn dir eine kurze Pause! Pausen sind wichtig, um Gelerntes zu festigen“, liest ihm sein iPad über Kopfhörer vor. Doch der Schlaks schaut lieber seiner Sitznachbarin Angelina über die Schulter, die schon mit dem nächsten Lernziel begonnen hat.
Die Oberstufenklasse 3 der Sine-Cura-Schule in Quedlinburg übt heute Vormittag, die Uhr zu lesen und Zeiträume zu bestimmen. Lektionen wie diese gehören hier, wo ausschließlich Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf in der geistigen Entwicklung lernen, mit dazu. Wer die Schule irgendwann verlässt, soll seinen Alltag möglichst selbstbestimmt meistern können. Die größte Herausforderung: Weil die Schüler kognitiv unterschiedlich stark beeinträchtigt sind, braucht eigentlich jedes Kind seinen eigenen Unterricht. „Lernen im Gleichschritt macht hier keinen Sinn, das wissen wir schon ganz lange“, sagt Birgit Schröder, die die Schule seit 2007 leitet. Umso wichtiger, dass Schröders Kollegium viel Mühe darauf verwendet, den Schulstoff zu individualisieren. Dabei unterstützt das Team seit Kurzem auch ein neuer Kollege, ein ziemlich smarter sogar. Gestatten: Rhapsode, der digitale Tutor.
Rhapsode stammt vom dänisch-amerikanischen Unternehmen Area9. Der Clou an der Software: Dank künstlicher Intelligenz (KI) passt sie sich automatisch an Lernstand und -tempo der Nutzer an. Anwendungen wie diese werden in Fachkreisen adaptive tutorielle Systeme genannt. Sie imitieren gewissermaßen das menschliche Gehirn, indem sie die Eingaben von Lernenden mit einem hinterlegten Regelwerk abgleichen und daraus Schlüsse ziehen. Stellt Rhapsode wie gerade bei Vanessa fest, dass ein Thema noch nicht verstanden wurde, bietet das Programm ihr so lange Hilfestellung und vergleichbare Aufgaben dazu an, bis sie das Lernziel erreicht hat. Umgekehrt dürfen Schüler, die schneller begreifen, auch mal ein paar Aufgaben auslassen. So wandelt am Ende jedes Kind auf seinem ganz eigenen Lernpfad, den die Lehrkraft in Echtzeit in einem Diagnose-Tool nachvollziehen kann. Schulleiterin Birgit Schröder überzeugt das. „Das System motiviert die Kinder mit viel positivem Feedback. Und mir hilft es, weil ich immer genau im Blick habe, wer gerade wo steht.“ Schröder ist sich sicher: „KI hat das Zeug, Schule zu verändern.“
»KI hat das Zeug, Schule zu verändern.«
Das sieht auch der Informatik-Professor Niels Pinkwart so, der am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Berlin das Labor für Bildungstechnologie leitet. Ob das Navi im Auto, die Sprachassistentin im Handy oder der Empfehlungs-Algorithmus auf Shoppingportalen – KI habe längst Einzug in sämtliche Bereiche unseres Lebens gehalten. „Da wird Schule langfristig keine Ausnahme bleiben“, so Pinkwart. Noch allerdings überwiegt im Bildungsbereich die Skepsis, wie eine Studie des mmb-Instituts für die Telekom-Stiftung ergeben hat, an der auch Pinkwart beteiligt war. So haben sich hierzulande bislang erst wenige KI-gestützte Anwendungen in Schulen etabliert. Und das, obwohl die Technologie auch die Lehrer massiv entlasten könnte. Man stelle sich vor, Klassenarbeiten würden künftig in Windeseile von einer KI korrigiert und benotet – natürlich zu 100 Prozent objektiv. Wobei: Bräuchte es dann überhaupt noch Lehrkräfte aus Fleisch und Blut?
„An den meisten Schulen gibt es heute nicht mal schnelles WLAN. Trotzdem beschäftigen wir uns immerzu mit den tollsten technologischen Visionen“, wundert sich Katharina Zweig. Die Informatikprofessorin erforscht an der Technischen Universität Kaiserslautern, wie Digitalität unsere Gesellschaft verändert. Vieles im Bereich der KI sei noch Grundlagenforschung. „Künstliche Intelligenz ist heute jedenfalls nicht in der Lage, einen Deutschaufsatz anhand der Kriterien zu beurteilen, die ein Mensch anlegen würde: Sprachbeherrschung, argumentative Konsistenz, kreative Ideen“, so Zweig. Stattdessen stütze sich die Maschine auf Hilfsmaße, untersuche den Text zum Beispiel auf bestimmte wünschenswerte Schlüsselbegriffe und Wortarten. „Damit schafft sie es vielleicht tatsächlich, die Note relativ gut vorherzusagen; sie misst aber nicht das, was sie eigentlich messen sollte.“
Hinzu komme bei lernenden KI-Verfahren im Unterschied zu regelbasierten Systemen das Problem der „algorithmischen Voreingenommenheit“, erklärt Niels Pinkwart vom DFKI. Werde solch eine lernende KI mit massenhaft Trainingsdaten gefüttert, in denen jedoch eine bestimmte Personengruppe unterrepräsentiert sei, zum Beispiel Schüler mit Rechtschreibschwäche, so sei das System für diese Gruppe später ungeeignet. Informatikerin Katharina Zweig plädiert dafür, Anwendungen erst dann für den Unterricht zuzulassen, wenn deren Nutzen hinreichend wissenschaftlich belegt ist. Einstweilen solle Schule auf etablierte KI aus anderen Lebensbereichen zurückgreifen, zum Beispiel Sprachassistenten oder Übersetzungssoftware: „Damit könnten wir im Unterricht heute schon jede Menge Inklusion schaffen, insbesondere für Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.“
»Die Maschine misst nicht, was sie messen sollte.«
Fragt man Christophe Speroni, ob er Lehrerjobs vernichten will, zeigt der EdTech-Unternehmer nur ein müdes Lächeln. Speroni ist Mitgründer des adaptiven Mathematik-Lernsystems Bettermarks, das inzwischen an über 3.000 Schulen bundesweit läuft und mehr als 300.000 Schülern hilft, ihre Ängste vor dem Problemfach zu überwinden. „Die Lehrkraft bleibt trotzdem die zentrale Figur im Unterricht. Lernen ist ja auch ein sozialer Prozess“, betont Speroni. Bettermarks fungiere dabei eher als digitaler Co-Trainer, der seine Augen überall habe, dadurch mathematische Fehlvorstellungen bei Schülern viel schneller erkennen und mit didaktisch sinnvollen Rückmeldungen auflösen könne. „Der Lehrer bemerkt Fehlvorstellungen oft erst, wenn er Klassenarbeiten korrigiert. Dann ist es aber zu spät.“
Von KI spricht Christophe Speroni im Zusammenhang mit Bettermarks trotz dessen smarten Fähigkeiten eher ungern. Schließlich beruhten die 2.800 hinterlegten Fehlkonzepte auf didaktischer Expertise, sprich: auf menschlicher Intelligenz. Dass das System durch die Unmengen an erfassten Lerndaten der Schülerinnen und Schüler jeden Tag ein bisschen schlauer wird, bestreitet der Wirtschaftsinformatiker aber nicht. Daten, die das Unternehmen gezielt nutzt, um die Software weiterzuentwickeln: „Wir können zum Beispiel anhand von KI-gestützten Analysen erkennen, warum manche Schulklassen mit Bettermarks erfolgreicher lernen als andere.“ Datenschutzrechtliche oder ethische Bedenken, die in Deutschland beim Thema KI gerne angeführt werden, verneint Speroni. Schließlich speichere sein System keine personenbezogenen Daten der Lernenden. Der viel zitierte gläserne Schüler – hierzulande scheint er also vorerst noch weit weg.
Anderswo hingegen ist er längst Realität. In China beispielsweise wird bereits mit intelligenten Systemen experimentiert, die die Mimik der Schüler analysieren, um festzustellen, ob diese dem Unterrichtsgeschehen auch aufmerksam folgen. Unkonzentriertheiten oder Störungen werden sofort ans Lehrerpult gemeldet. – So weit wird es bei uns nicht kommen, da sind sich Experten wie Speroni, Niels Pinkwart und Katharina Zweig einig. Auch an der Sine-Cura-Schule will man von solchen Dystopien nichts wissen. Im Gegenteil, Leiterin Birgit Schröder ist stolz darauf, dass ihre Schule zur digitalen Avantgarde zählt. Zwar wird Rhapsode dort bislang nur im Rahmen eines Testlaufs eingesetzt. Schröder hofft indes, dass sie das System bald auch regulär wird nutzen können. „Das Tolle ist: Die Kinder merken nicht mal, dass sie lernen, wenn sie damit arbeiten.“ Etwas Besseres lässt sich über einen digitalen Tutor doch wohl kaum sagen.
Der Artikel ist in Ausgabe Nr. 10 unseres Bildungsmagazins „sonar“ zum Thema „Digitales Lernen“ erschienen.
Hier geht es zur Studie „KI@Bildung“, an der Niels Pinkwart mitgearbeitet hat.
Text: Daniel Schwitzer
Foto: Michael Bader