Jump to main content
Eine Schülerin hilft einer Drittklässlerin beim Lernen.

Schüler machen Schule

Erwachsene raus! – heißt es an einem Tag im Jahr an einer Schule in Neuruppin. Elftklässler übernehmen dann dort das Kommando und managen eigenverantwortlich alle Abläufe.

Im Lehrerzimmer ist was los. Zwei Dutzend Jugendliche hocken eng an eng auf den Tischen, mindestens genauso viele stehen drum herum. Fäuste prallen zur Begrüßung gegeneinander, Finger wischen über Handybildschirme, Lippen küssen Wangen. Dazu kreischt „Dance Monkey“ von Tones and I aus dem Lautsprecher. Zur selben Zeit fährt Bettina Labahn im Raum nebenan ihren Rechner herunter. Die laute Musik scheint die stellvertretende Schulleiterin kein bisschen zu irritieren. „Das wird gleich ruhiger“, sagt sie und lächelt. Spätestens um acht, wenn der Unterricht beginnt, sei es soweit. Bis dahin wird Labahn das Haus allerdings schon verlassen haben, so wie das übrige Kollegium auch, denn heute findet an der Evangelischen Schule Neuruppin der traditionelle „Schüler machen Schule“-Tag statt. Und das bedeutet: Während die Lehrkräfte Fortbildungen und Team-Meetings besuchen, übernehmen Schüler der elften Klassen die Regie.

Monatelang haben sich die Jugendlichen auf diesen Tag vorbereitet, an dem sie alleine für den gesamten Schulbetrieb verantwortlich sind. Sie haben ein achtköpfiges Leitungsteam gewählt, das die Übersicht behalten soll. Sie haben Lehrerteams gebildet, die in den Klassen eins bis neun nach Stundenplan unterrichten, haben sich Gedanken gemacht und Konzepte geschrieben. Nun geht es endlich los. Schräg gegenüber vom Lehrerzimmer sind die Schulleiterinnen Marylou und Carlotta bereits in Aktion. Auf einem Tisch liegen Schokolade und Bonbons bereit – ein kleiner Gruß von der echten Schulleiterin –, aber zum Naschen haben die beiden 16-Jährigen keine Zeit: Carlotta nimmt gerade den sechsten Elternanruf entgegen, notiert den Namen eines kranken Kindes. Marylou sucht die wichtigsten Infos zusammen: Wer hat wann Unterricht? Welche Fachräume müssen aufgeschlossen werden? Und: Sind alle da, die um acht Uhr unterrichten sollen? Da fliegt die Tür auf und ein weiterer Schulleiter stürzt herein: Max, er trägt zur Feier des Tages ein Sakko mit Einstecktuch. „Schon gehört? Korben ist krank!“, ruft er. „Wir brauchen Ersatz!“, bemerkt Carlotta. „In welcher Klasse sollte er unterrichten?“, fragt Marylou. Kurz darauf stellt sich heraus: Korben ist doch da – und im Flur steht ein Mann in blauer Latzhose und fragt nach den Fahrstühlen. Marylou führt ihn zum Treppenhaus. „Ich schreib schnell ein paar Zettel. Die hängen wir auf, damit alle wissen, dass die erst mal außer Betrieb sind“, ruft Carlotta ihr hinterher. 
 


Vorbild in der Schweiz
Bei so vielen Aufgaben die Übersicht zu behalten, ist gar nicht so einfach, das weiß auch Bettina Labahn. „Ständig passiert etwas. Dauernd muss ich Aufgaben lösen, ohne dabei andere zu vernachlässigen“, erklärt sie. „So lernen die Jugendlichen Schule mal aus einem anderen Blickwinkel kennen und erfahren, was das für ein komplexes System ist.“ Und sie hat weitere Lerneffekte festgestellt: „Die Schüler übernehmen Verantwortung für sich und andere, stärken ihr Verständnis füreinander und letztlich wächst auch das Selbstbewusstsein.“ Von all dem profitiere die gesamte Schulgemeinschaft. Begonnen hat alles 2007: Damals hatte die Schulleiterin einen Artikel über ein ähnliches Projekt in der Schweiz gelesen. Kurz darauf wagte sie selbst das Experiment.

Im Chemieraum hat sich die 9d versammelt. Gespanntes Warten, was nun gleich kommt. Lehrer Jakob trägt einen schwarzen Hogwarts-Hoodie und wirkt routiniert. „Bitte melden“, sagt er knapp, aber bestimmt, als eine Schülerin dazwischen ruft. Als die Jungs in der letzten Reihe während eines Experiments zu laut werden, geht der 18-Jährige hin, stellt sich hinter die Gruppe und bleibt dort, bis der Versuch beendet ist. Die Neuntklässler experimentieren mit Wasser. „Wir hätten gerne was mit anderen Stoffen gemacht“, erzählt Jakob später. Genau wie sein Unterrichtspartner Lukas (16) hat er Chemie als Leistungskurs belegt. „Aber das ging nicht. Zu gefährlich ...“ Auch in den anderen Klassen haben die Jugendlichen bei den Lehrkräften erfragt, was sie gerade durchnehmen, haben Ideen und Unterrichtskonzepte vorgestellt und abgesprochen. Ein weiterer wichtiger Punkt: die Zusammenstellung der Teams. „Wir haben darauf geachtet, dass nicht zwei schüchterne Leute alleine vor einer Klasse stehen“, erklärt Marylou. „Und bei den Neunten sind immer Dreierteams im Einsatz, denn die sind manchmal schwer zu bändigen.


Sprung ins kalte Wasser
Im Klassenraum der 2a klappt Lisa das Buch zu, aus dem sie gerade vorgelesen hat. „Ihr habt gut mitgemacht“, lobt sie. „Gleich schreiben wir ein Schleichdiktat. Jetzt ist aber Pause.“ Die Kinder springen auf, greifen nach ihren Jacken und rennen auf den Hof. Ihre heutigen Lehrerinnen Lisa und Sophie bleiben im Klassenraum zurück. „Läuft echt nice“, findet Lisa. „Ja“, gibt Sophie zurück. „Ich hätte aber nie gedacht, dass die so viel reinquatschen würden ...“ Lisa nickt. „Und als sie die Monate aufschreiben sollten, waren alle fertig, nur einer war noch bei März. Was macht man da? Man kann dem ja nicht alles vorsagen, nur damit es schneller geht.“ Sophie seufzt. „Und dann die Rechtschreibung. Dezember mit a am Schluss und März mit e ...!“ Die beiden kichern. Bei einem Projekt hatte ihnen der Klassenlehrer von seiner 2a vorgeschwärmt. „Da dachten wir, das wird entspannt. Aber die Kleinen haben es faustdick hinter den Ohren“, erzählt Sophie und muss grinsen. „Trotzdem macht es Spaß“, sind sich die beiden einig.

Bettina Labahn ist voller Respekt für die Leistungen der Jugendlichen. „Das ist schon ein Sprung ins kalte Wasser“, bekennt sie. „Vor allem im Grundschulbereich. Wie leite ich die Gruppenbildung bei Aufgaben an? Wie spreche ich mit den Kindern, damit sie mich richtig verstehen? Und: Wie unterstütze ich die einen, ohne die anderen zu vernachlässigen?“ Obwohl die Aufgaben komplex sind, läuft an dem Tag alles gut. „Das hat uns selbst ein bisschen überrascht, denn wir waren vorher alle ziemlich aufgeregt“, erzählt Marylou einige Wochen später. Die Jugendlichen haben sich inzwischen ausführlich untereinander und mit den Lehrkräften ausgetauscht. Und auch die jüngeren Schüler haben ein Feedback gegeben. „Das war kreativer als bei den Lehrern“, hat zum Beispiel Fünftklässler Lennart festgestellt. Und Achtklässlerin Judith findet: „Weil sie selbst noch Schüler sind, können die sich besser in uns hineinversetzen.“ Einige Schüler aus der 9d gaben zu Protokoll: „Wir wollen jetzt immer bei Jakob Chemie haben!“ Manche der Elftklässler haben an dem Tag herausgefunden, dass ihnen das Unterrichten liegt. Die Schule gibt ihnen die Chance, sich darin weiter zu erproben: Wer Interesse hat, darf im normalen Schulbetrieb stundenweise einspringen, wenn Lehrkräfte ausfallen.

Auch aus Sicht der stellvertretenden Schulleiterin ist der Tag gut gelaufen. Mal wieder. Nach einem Negativbeispiel gefragt, muss sie länger überlegen. „Vor einigen Jahren lief es mal etwas aus dem Ruder“, sagt Bettina Labahn. „Da waren manche Klassen sehr laut. Andererseits hatten sich die Schüler-Lehrer damals auch nicht so gut vorbereitet.“ Aber auch das sei letztlich kein Problem gewesen: „Solche Erfahrungen sind doch ein guter Anlass für ein Gespräch mit allen Beteiligten über das Thema Verantwortung.“


Der Artikel ist erstmalig in der aktuellen Ausgabe unseres Bildungsmagazins sonar zum Thema „Eigeninitiative“ erschienen. Autorin: Fenja Mens.

Fotos: Christian Klant