
Quellenkunde vom Profi
Eigentlich soll Schule Jugendlichen den kritischen Umgang mit Netzinhalten beibringen. Doch auch immer mehr Akteure von außerhalb übernehmen den Job. Zum Beispiel Journalisten und Bibliothekare.
Auf den ersten Blick wirkt das Foto harmlos: Zu sehen ist ein silberfarbener Mercedes, der am Straßenrand hält. An der geöffneten Autotür steht eine Frau in schwarzem Gewand mit Kopftuch. Ihr Ziel scheint das Gebäude an der Ecke zu sein. Davor warten schon andere Frauen, auch sie der Kleidung nach zu urteilen Musliminnen. Mehr lässt sich über die Szene objektiv erst mal nicht sagen. Dass sich der Schnappschuss im März 2018 trotzdem binnen weniger Tage zehntausendfach auf Facebook verbreitete und zu einer wahren Flut an hässlichen Reaktionen führte, lag an der süffisanten Bemerkung, mit der der Nutzer ihn beim Hochladen versah: „Heute vor der Landauer Tafel. Läuft!“ Was er damit meinte, war offensichtlich: Da nutzen ausländische Mitbürger, die sich Luxusautos leisten können, die Hilfsbereitschaft der Deutschen aus! Oder, wie es einer der Hasskommentatoren drastischer ausdrückte: „Die Kopftuchindianer fahren mit dem dicken Mercedes vor und fressen bedürftigen Deutschen die letzten Lebensmittel weg.“
Doch was war wirklich dran an der Sache? Wie sich herausstellte, rein gar nichts. Zwar zeigte das Bild tatsächlich die Landauer Tafel. Die aber stellte tags darauf öffentlich klar, in dem Auto sei eine deutsche Rentnerin zur Tafel gefahren worden, die den Weg zu Fuß nicht mehr schaffe. Im Übrigen prüfe die Tafel bei der Ausgabe sehr genau, wer bedürftig sei und wer nicht.

Wenn Carolin Gasteiger mal wieder zu Besuch in einer Schulklasse ist, um über ihre Arbeit zu berichten, dann erzählt sie mitunter auch von diesem Foto. Das Beispiel soll den Schülern verdeutlichen, wie leicht sich in Zeiten von Twitter, WhatsApp und Facebook falsche Behauptungen aufstellen und verbreiten lassen. Gasteiger ist Journalistin und schreibt für die „Süddeutsche Zeitung“. Fakten zu überprüfen und Quellen zu checken, ist quasi ihr täglich Brot. Wer wäre besser geeignet als sie, Jugendlichen kritisches Denken im Umgang mit Netzinhalten beizubringen.
Das dachte sich vor einiger Zeit auch ihr Arbeitgeber und rief die „SZ“-Werkstattgespräche ins Leben. Seitdem gehen Carolin Gasteiger und viele ihrer Redaktionskollegen regelmäßig in bayerische Schulen, um Heranwachsende für das Thema Fake News zu sensibilisieren und ihnen Methoden an die Hand zu geben, mit denen sie Desinformation entlarven können. Und die „SZ“ ist nicht das einzige Medium, das sich engagiert: Unter dem Dach der Initiative „Journalismus macht Schule“ vermitteln inzwischen eine Reihe von Zeitungen und Fernsehsendern Journalisten an Schulklassen und bieten Unterrichtsmaterialien an.
Niemand ist davor gefeit, mal unbedacht ein Gerücht in die Welt zu setzen.
„Mir geht es erst mal darum, den Jugendlichen aus meinem Arbeitsalltag zu berichten, ihnen zu erklären, wie wir an Informationen kommen, wie das Zwei-Quellen-Prinzip funktioniert“, sagt Carolin Gasteiger. Die Fragen nach Fake News kämen dann irgendwann von alleine. Dabei ist es ihr wichtig zu vermitteln, dass nicht jede Falschmeldung und jede Halbwahrheit gezielt von interessierten Kreisen und bösen Mächten lanciert werde. Vielmehr sei niemand davor gefeit, mal unbedacht ein Gerücht in die Welt zu setzen. So wie im Juli 2016 beim Amoklauf im Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ), als verängstigte Bürger via Twitter stundenlang Meldungen verbreiteten, dass angeblich auch am Stachus und am Hauptbahnhof geschossen werde. Dort kam es in der Folge zu panikartigen Szenen mit vielen Verletzten, obwohl der Amokläufer zu diesem Zeitpunkt längst tot war. „Da twittert einer im Affekt, dass er Schüsse hört, dabei ist im Hintergrund vielleicht nur eine Tür zugeknallt“, versucht sich die Journalistin an einer Erklärung. Den Schülern empfiehlt sie, lieber zweimal nachzudenken, bevor sie etwas posten. In Ausnahmesituationen sei es zudem ratsam, erst mal zu gucken, was offizielle Quellen wie die Polizei verlautbarten, bevor man unbestätigte Gerüchte weiterverbreite.

Laut einer aktuellen Allensbach-Befragung sagen nur etwa 20 Prozent der 10- bis 16-Jährigen, es falle ihnen manchmal schwer zu beurteilen, ob Informationen, die sie gehört oder gelesen haben, auch stimmen. Professor Marc Stadtler von der Ruhr-Universität Bochum bezweifelt das. „Ein klarer Fall von Selbstüberschätzung“, so der Kompetenzforscher. Deutsche und internationale Testungen hätten gezeigt, dass Heranwachsende viel zu vertrauensselig mit Texten aus dem Internet umgingen und kaum einmal Quelleninformationen recherchierten. Stadtler sieht hier vor allem ein Versäumnis der Schulen: „Das Thema ist schlicht kein Teil der unterrichtlichen Realität. Dabei ist es viel zu wichtig, als dass sich die Schulen leisten könnten, darauf zu verzichten.“ Dass stattdessen andere Akteure, die von Berufs wegen mit Informationen und Quellen zu tun haben, in die Lücke stoßen und sich engagieren, ist für den Wissenschaftler die logische Konsequenz.
Zu diesen Akteuren zählt auch Hardy Warlich. Der Diplom-Bibliothekar arbeitet in der TIB – Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften und Universitätsbibliothek Hannover, der weltweit größten Fachbibliothek für Technik und Naturwissenschaften (s. dazu auch Seite 33). Als Leiter der Zentralen Information ist es sein Job, Studierende und Wissenschaftler bei der Literaturrecherche zu unterstützen. Inzwischen hat die TIB aber auch Jugendliche als Zielgruppe entdeckt. Zunächst eher unfreiwillig, wie Warlich zugibt. So muss seit ein paar Jahren jeder Schüler in Niedersachsen in der Oberstufe eine längere Facharbeit schreiben, quasi als Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten. Damit waren anfangs nicht nur die Jugendlichen, sondern auch ihre Lehrkräfte überfordert, erinnert sich Warlich. „Die haben den Schülern teilweise Themen gegeben, die einer Dissertation würdig gewesen wären. Und damit sollten sie dann in die Uni-Bibliothek gehen und recherchieren. Also standen plötzlich lauter 16- und 17-Jährige bei uns vor dem Tresen, die keine Ahnung hatten, was sie machen sollten.“
„Drei Wikipedia-Artikel sind noch kein Literaturverzeichnis.“
Hardy Warlich und sein Team reagierten, indem sie verschiedene Veranstaltungsformate speziell für Schüler schufen. Darin erfahren diese zum einen, wie man richtig im Internet recherchiert, die dort gefundenen Quellen adäquat bewertet und in der Facharbeit zitiert. Auch das Erkennen von Fake News wird geübt. Zum anderen sollen die Jugendlichen die Bibliothekskataloge kennenlernen und anhand von praktischen Übungen trainieren, wie man darin geschickt nach Literatur sucht. Insbesondere dieser letzte Punkt ist Warlich wichtig: „Die meisten Schüler sind ja heute über Google sozialisiert worden und begnügen sich meist mit dem, was sie dort finden. Erst später an der Uni merken sie dann, dass es nicht ausreicht, drei Wikipedia-Artikel ins Quellenverzeichnis ihrer Hausarbeit zu schreiben.“ Insofern betrachtet Hardy Warlich die Schüler-Veranstaltungen der TIB durchaus als Investition in die Zukunft. Schließlich werden aus vielen Oberstuflern irgendwann Erstsemester.
Mit ihrem Engagement für Jugendliche ist die Hannoveraner Bibliothek übrigens nicht allein. Viele weitere haben heute ganz ähnliche Seminare oder Werkstätten im Programm. Hardy Warlich macht die Arbeit mit den jungen Besuchern großen Spaß: „Das beflügelt einen, wenn man sieht, die arbeiten gut mit, greifen Ratschläge auf – und gehen am Ende tatsächlich mit drei, vier konkreten Literaturstellen für ihre Facharbeit nach Hause.“
Auch Carolin Gasteiger empfindet ihre Werkstattgespräche in Schulen immer als bereichernd. Wenngleich sie weiß, dass ihr Einfluss bei gerade mal 90 Minuten pro Klasse begrenzt ist. Auch deshalb, weil ein Großteil der Jugendlichen mit einer gedruckten Zeitung nur noch wenig anfangen kann. „Die lesen, was ihnen in die Timeline ihres Handys gespült wird, und nicht mehr ausschließlich ein Medium. Manche sagen auch, dass sie sich überhaupt nicht aktuell informieren.“ Trotzdem ist der Austausch mit den Schülerinnen und Schülern wichtig und lehrreich. „Wenn nach den 90 Minuten vier oder fünf Schüler rausgehen und sagen, wow, das war interessant, dann bin ich zufrieden.“
Der Artikel ist in der der aktuellen Ausgabe unseres Bildungsmagazins sonar erschienen.
Mit unserem Online-Game „Facts & Fakes“ können Jugendliche spielerisch Fake News entlarven. Gemeinsam mit der RuhrUniversität Bochum und der Technischen Universität Dortmund entwickeln wir zudem Materialien und Unterrichtsmodule zum Thema Quellenkompetenz.
Text: Daniel Schwitzer
Fotos: badahos/iStock.com, Friedrich Bungert, Christian Bierwagen