
Mach mal Dampf!
MINT und Kunst gemeinsam unterrichten? Zwei Lehrkräfte zeigen, dass das geht. Und wie sie damit bei ihren Schülern das Verstehen fördern.
MINT kreativ vermitteln – kann das klappen? Sind Mathematik, Informatik, die Naturwissenschaften und Technik dafür nicht viel zu trocken? Wer so denkt, sollte vielleicht mal den Unterricht von Kirsten Lauritsen besuchen. Lauritsen gibt am Heinitz-Gymnasium im brandenburgischen Rüdersdorf, unweit von Berlin, die Fächer Chemie und Biologie. Ihre Schüler allerdings kommen sich dabei manchmal eher wie Kunststudenten vor. Insbesondere dann, wenn in Chemie mal wieder das Thema Salze und Ionenverbindungen auf dem Lehrplan steht.
Dann nämlich verwandelt Kirsten Lauritsen den Klassenraum in ein veritables Fotolabor und führt sie mit Leidenschaft in die Cyanotypie ein, eine alte Form der analogen Fotoentwicklung. Das Verfahren basiert auf Eisensalzen. Weil diese weniger lichtempfindlich sind als Silbersalze, die heute noch in der analogen Schwarz-Weiß-Fotografie gebräuchlich sind, eignet sich das Verfahren gut für die Schule. „Man braucht keine Dunkelkammer. Einfach Vorhänge zuziehen und los geht’s“, erklärt Lauritsen. Dabei rühren die Jugendlichen zunächst aus den Salzen, aus Gelatine und Wasser einen gelblichen Kleister an und pinseln ihn auf Papier – fertig ist das Trägermedium. Darauf fixieren sie das Fotonegativ, das sie zuvor am Rechner erstellt haben, und legen beides zum Belichten in die Sonne.
Nach etwa einer halben Stunde muss das Papier nur noch unter kaltem Wasser abgespült und getrocknet werden. Das Foto erstrahlt anschließend in einem satten dunklen Blau, dem für die Cyanotypie charakteristischen Farbton. Der Entwicklungsprozess sei für die Schüler immer wieder total faszinierend, erzählt die Lehrerin. „Heute knipsen die meisten ja nur noch mit ihren Handys und können die Bilder dann sofort sehen. Hier erfahren sie mal, wie aufwendig das früher war.“ So wie Kirsten Lauritsen versuchen heute immer mehr Lehrkräfte der schwierigen MINT-Fächer, ihren Unterricht kreativer zu gestalten und Schülern so den Zugang zu erleichtern. Denn die häufig abstrakten, von Logik und Formeln geprägten Disziplinen sind bei Jugendlichen fast schon chronisch unbeliebt. Die mittelbare Folge: ein bereits heute immenser Fachkräftemangel in manchen MINT-Berufen.
Mit einem stärker künstlerisch-ästhetischen Ansatz bei der Vermittlung in Schulen, so die Hoffnung von Pädagogen und Didaktikern, könnte sich das ändern. Der Ansatz kommt ursprünglich aus den USA und nennt sich hierzulande MINKT, wobei das K für die Künste steht. Besser klingt allerdings das englische STEAM (Science, Technology, Engineering, Arts, Math). Man könnte sagen, Lehrkräfte wie Kirsten Lauritsen machen den MINT-Fächern richtig Dampf!
Und tatsächlich gibt es viele Beispiele, warum die exakten Wissenschaften und die freie Kunst gut zueinanderpassen: Man denke nur an Leonardo da Vinci, der in der Renaissance Werke wie die Mona Lisa schuf, gleichzeitig aber ein angesehener Naturforscher und Ingenieur war. Auch Goethe galt zu seiner Zeit als Universalgelehrter; neben dem Dichten beschäftigte er sich mit Mineralogie, Botanik und Farbenlehre. In der Gegenwart sind es vor allem Kunst und digitale Technik, die sich scheinbar gut ergänzen: Erst im März sorgte die Versteigerung eines digitalen Kunstwerks – einer Datei also – für Aufsehen. Es kam beim Auktionshaus Christie’s für mehr als 69 Millionen Dollar unter den Hammer. Und in Bonn freuen sie sich jetzt schon auf den Herbst, wenn Beethovens 10. Sinfonie dort Uraufführung feiert. Moment mal, Uraufführung? Genau! Der Komponist starb einst, bevor er sein Werk vollenden konnte. Das erledigten knapp 200 Jahre später nun Musikwissenschaftler und Informatiker mithilfe von künstlicher Intelligenz für ihn.

Fragt man John-Luke Ingleson, was Lehrkräfte für guten STEAM-Unterricht brauchen, so muss er nicht lange überlegen: „Offenheit und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, sind ganz wesentlich.“ Dass er selbst beides zur Genüge besitzt, lässt sich schon an seinem Werdegang ablesen. Denn Ingleson, gerade 50 geworden, hat unter anderem in einer Bank gearbeitet, eine Kfz- Mechanikerlehre begonnen, Maschinenbau studiert und 13 Jahre bei einer Fluggesellschaft gearbeitet, bevor er ein Lehramtsstudium hinterherschob. An der Frankfurter Wöhlerschule ist er heute Lehrer für Physik und Kunst – die perfekte Kombination für STEAM, wie er sagt: „Ich weiß manchmal selbst nicht, welches von beiden Fächern ich gerade unterrichte.“
Wenn man Schülern die Möglichkeit gebe, sich ästhetisch mit naturwissenschaftlichen Inhalten auseinanderzusetzen, triggere das ihre intrinsische Motivation, so Ingleson. „Sie versinken dann richtig im kreativen Prozess und kommen zu Lösungen, die superspannend sind. Das fachliche Lernen passiert nebenbei.“ In seinem Unterricht lässt Ingleson die Kinder und Jugendlichen gestalten, wann immer es geht. Mit jüngeren Schülern bastelt er zum Beispiel Mobiles, um ihnen daran Gleichgewichtskraft und Hebelwirkung zu erklären. Oder er gibt ihnen auf, Joseph Beuys’ „Capri-Batterie“ nachzubauen – die berühmte gelbe Glühbirne, die ihren Strom aus einer Zitrone bezieht – und zu prüfen, ob das Kunstwerk den Realitätstest besteht. In höheren Klassen oder Projektkursen verbindet Ingleson STEAM auch gerne mit Design Thinking, einem kreativen Problemlöseansatz, der aus der Produktentwicklung kommt. Die Schülerinnen und Schüler brainstormen dann Ideen für selbst erdachte Herausforderungen und setzen die beste anschließend in die Tat um. Mit allerlei Werkzeug und digitalen Geräten wie 3-D-Druckern und Laser-Cuttern konstruieren sie am Ende sogar richtige Prototypen. So wie vor zwei Jahren einen Schuh mit eingebautem Stirlingmotor, der die Wärme, die beim Gehen entsteht, in Strom umwandeln und damit den Smartphone-Akku aufladen konnte.
„Das Tolle an STEAM ist, dass der Inklusionsgedanke stark zum Tragen kommt“, sagt Professor André Bresges. Der Physikdidaktiker bringt an der Universität Köln angehenden MINT-Lehrkräften bei, das gestalterische Element in den Mittelpunkt ihres Unterrichts zu stellen. Bis zu 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler einer Klasse seien nun mal keine typischen Naturwissenschaftler und müssten deshalb irgendwie aktiviert werden, so Bresges. „Durch STEAM erkennen sie erst, was für ein erstaunliches Potenzial in ihnen schlummert.“
Bresges’ Begeisterung für das Konzept teilt Professorin Ilka Parchmann vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel. Allerdings mit einer Einschränkung: das „A“, die Kunst, dürfe letztlich nicht zu sehr vom Rest von STEAM ablenken. „Das ist die Herausforderung: den ästhetischen Zugang so zu gestalten, dass die Jugendlichen nicht komplett in andere Welten entschwinden, sondern dass er zielführend ist und sie am Ende auch die MINT-Inhalte lernen möchten.“ Für André Bresges ist es deshalb auch entscheidend, dass die Schüler im STEAM-Unterricht nicht nur „gucken und staunen“, sondern „mitmachen und mitgestalten“ und sich mit dem Ergebnis ihrer Arbeit – das könne zum Beispiel ein Produkt sein, ein Experiment oder auch ein Erklärfilm – der Bewertung stellen.
Kirsten Lauritsen und John-Luke Ingleson werden MINT weiterhin Dampf machen, so viel steht fest. Dass die Fächer anderswo noch meist „von der Stange“ unterrichtet werden, also ohne Kreativität und Gestaltungswille, ficht beide nicht an. „Neue Wege zu gehen, erfordert halt auch eine Portion Mut“, sagt Lauritsen. Wie man es schaffen könnte, dass künftig noch mehr Lehrkräfte auf den STEAM-Zug aufspringen? Laut Ingleson wären dafür bessere Rahmenbedingungen die Voraussetzung: „Weniger eng getakteter Unterricht, kleinere Klassen, mehr Team- Teaching und mehr Freiheit bei der Leistungsbewertung – das würde gestalterische Projekte enorm erleichtern.“ Zur Not geht es für ihn aber auch ohne diesen Luxus. Denn MINT und Kunst – das passt einfach prima zusammen.
Der Artikel ist in Ausgabe Nr. 9 unseres Bildungsmagazins „sonar“ zum Thema „MINT kreativ“ erschienen.
Text: Daniel Schwitzer
Fotos: Sascha Kreklau