
„Konsequent offen für alle“
Karin Böllert, Professorin für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Jury-Mitglied der „Ich kann was!“-Initiative, über das oft unterschätzte Potenzial der offenen Kinder- und Jugendarbeit.
Frau Professor Böllert, Jugendliche können in der offenen Jugendarbeit sehr schnell zeigen, was in ihnen steckt. Das gilt besonders für die, die aus schwierigem Umfeld kommen. Was ist so motivierend an diesem Lernort?
Jugendeinrichtungen sind Orte, die konsequent für alle offenstehen. Das macht sie so attraktiv. Aktuelle Erhebungen, die man im 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung nachlesen kann, dokumentieren das deutlich. Demnach besucht die Hälfte aller Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr regelmäßig eine offene Jugendeinrichtung. Der Reiz dieser Orte besteht darin, dass junge Menschen dort ihren Interessen frei nachgehen können. Sie können vieles selbst gestalten, nichts geschieht unter Zwang. Damit ist die Jugendarbeit ein wichtiger Lernort für junge Menschen.
Aber in der Öffentlichkeit, so zeigt etwa eine Umfrage der Telekom-Stiftung, wird dies kaum wahrgenommen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Die Gesellschaft nimmt vor allem Bildungsprozesse wahr, die mit Zertifikaten und Noten einhergehen. Jugendeinrichtungen arbeiten aber nicht mit Zeugnissen, die hier stattfindenden Bildungsprozesse sind nicht formaler Art und bewegen sich auf einer informellen Ebene. Dadurch läuft diese wichtige Arbeit oft unter dem Radar der Öffentlichkeit. Hinzu kommt, dass offene Jugendarbeit sich bislang schwer damit tut, ihre Ergebnisse zu dokumentieren. Diese Einrichtungen sind ja bewusst als Freiräume für junge Menschen angelegt, zu denen eine Dokumentationspflicht nicht wirklich passt.
Eine schwierige Position für die Einrichtungen, oder?
Ja, das ist so. Auch deshalb wäre es hilfreich, dass die offene Kinder- und Jugendarbeit als zentrales Handlungsfeld endlich bundesweit einen Zusammenschluss erlebt. Es gibt bisher keinen Dachverband, der auf Bundesebene für die Belange der offenen Kinder- und Jugendarbeit eintritt und die Politik über die wichtige Bildungsarbeit dieser Gruppe informiert.
Eine weitere Herausforderung unserer Zeit ist die Digitalisierung aller Lebensbereiche. Wir müssen aufpassen, dass da niemand zurückbleibt. Was kann die offene Kinder- und Jugendarbeit dazu beitragen?
Jugendliche verstehen oft die Aufregung beim Thema Digitalisierung nicht, für sie ist ein digital geprägter Alltag völlig selbstverständlich. Fast alle haben ein Smartphone, fast alle sind ständig online. Auch das kann man im aktuellen Kinder-und Jugendbericht des Bundes nachlesen. Wo es aber Ungleichheiten gibt, ist beim kompetenten Umgang mit den digitalen Geräten. Genau da leistet die offene Kinder- und Jugendarbeit mit Projekten wie „Ich kann was!“ eine wichtige Vermittlungsarbeit. Dieses Projekt bringt Kinder und Jugendliche spielerisch dazu, ihre digitalen Kompetenzen zu stärken. Es ist ein wichtiger Beitrag zur Chancengerechtigkeit. Indem sie filmen, Videos schneiden, Musik entwickeln oder sogar kleine Roboter programmieren, lernen sie einen positiven, reflektierten und kreativen Umgang mit den digitalen Medien kennen.
Vielen Jugendzentren mangelt es an finanziellen Mitteln. Digitales Lernen braucht aber eine entsprechende Ausstattung. Ein Dilemma?
Tatsächlich haben Jugendeinrichtungen oft schon Computer vor Ort. Eher mangelt es an Zusatzprogrammen und ganz oft fehlt ein simpler WLAN-Zugang. Fast jede Jugendeinrichtung kann ein Lied davon singen, wie mühsam sie alljährlich bei der Kommune mit komplizierten Anträgen für die Finanzierung ihrer Projekte kämpfen muss. Das ist kein Zustand. Ein festes Budget, das mehr Gestaltungsspielräume eröffnet, würde den Einrichtungen wichtige Planungssicherheit geben.
Aktuelle Zahlen zeigen, dass es immer weniger offene Kinder- und Jugendeinrichtungen in Deutschland gibt. Wie lässt sich diese Tendenz stoppen? Welche konkreten Maßnahmen wünschen Sie sich von wem?
Jugendarbeit findet heutzutage auch vermehrt außerhalb der klassischen Jugendeinrichtungen statt. Etwa in der Ganztagsschule. Deshalb ist die Lage nicht ganz so dramatisch, wie zunächst befürchtet. Doch insgesamt müsste die Kinder- und Jugendarbeit viel häufiger Bestandteil der kommunalen Jugendhilfeplanung sein. Um die Jugendarbeit zu stärken, müsste man dringend einen aktuellen Bedarf ermitteln. Wichtig wäre außerdem, dass man die Kinder- und Jugendlichen selbst nach ihren Interessen und Wünschen befragt und sie in die Jugendhilfeplanung mit einbindet. Schließlich haben Jugendliche oft super Ideen, auf die Erwachsene vielleicht gar nicht kommen.
Autorin: Alexandra Trudslev / Foto: Michael Ebner