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Schülerin lacht im Klassenraum und hat ein Smartphone in der Hand

„Gebt den Schülern mehr Verantwortung!“

OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher über das Zukunftskonzept „Learning Compass 2030“ – und warum die Handlungskompetenz von Kindern und Jugendlichen besonders wichtig ist.

Andreas Schleicher (OECD)
OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher.

Als Tiago Brandão Rodrigues im Jahr 2015 portugiesischer Bildungsminister wurde, bestand eine seiner ersten Initiativen darin, den Schulen des Landes für jeden Schüler und jede Schülerin einen zusätzlichen Euro zur Verfügung zu stellen. Das Besondere daran: Die Schüler selbst sollten darüber entscheiden, wie die Extramittel verwendet werden. Dazu muss man sagen, dass in Portugals Bildungssystem Schulen und Schüler traditionell noch weniger Gestaltungsfreiräume hatten als jene bei uns in Deutschland. So verlief das Experiment anfangs dann auch wenig erfolgreich: An einer Schule etwa beschlossen die Kinder kurzerhand, mit dem Geld Eiscreme für alle zu kaufen. Erst mit der Zeit merkten sie, dass es sinnvoller ist, die Mittel für Dinge zu verwenden, die für ihr Leben und Lernen tatsächlich wichtig sind. Heute engagieren sich in Portugal die Schüler an vielen Schulen weit über dieses begrenzte Budget hinaus bei der Ressourcenverteilung.

Warum ich Ihnen diese Geschichte erzähle? Weil ich der Überzeugung bin, dass es sich lohnt, Kindern Verantwortung für ihr Lernen zu übertragen, anstatt sie bloß zu zweitklassigen Robotern heranzubilden. Letzteres nämlich ist uns in der Industriegesellschaft gelungen: Wir bringen Schülerinnen und Schülern etwas bei und erwarten von ihnen, dass sie es in geeigneter Form wiedergeben können. In der Zeit der künstlichen Intelligenz müssen wir uns mehr Gedanken darüber machen, was die Alleinstellungsmerkmale menschlicher Fähigkeiten sind, die Technologie nicht ersetzen, sondern ergänzen.

Dinge, die sich einfach unterrichten lassen, lassen sich heute auch leicht digitalisieren und automatisieren. Die moderne Welt belohnt uns nicht mehr allein für das, was wir wissen – Google weiß ja schon alles –, sondern für das, was wir mit diesem Wissen tun können; für unsere Fähigkeit, Wissen kreativ und eigenständig in neuen Situationen anzuwenden. In modernen Gesellschaften erfolgt Wertschöpfung, indem verschiedene Wissensgebiete zusammengeführt und Ideen miteinander verknüpft werden, die vorher in keinem Zusammenhang zu stehen schienen. Dies setzt voraus, mit anderen Denkweisen vertraut und aufgeschlossen für sie zu sein.

Illustration mit jungen Menschen
Lernen des 21. Jahrhunderts
Den heutigen Schulen gelingt es gut, das Wissen unserer Zeit zu vermitteln. Aber sie müssen besser darin werden, Schüler zu befähigen, das Wissen unserer Zeit infrage zu stellen, offen für Neues zu sein. Dabei gilt es oft, einen Schritt zurückzutreten von dem, was bekannt ist oder angenommen wird, um vorherzusehen, was in Zukunft erforderlich ist oder welche Folgen Maßnahmen, die ­heute ergriffen werden, künftig haben könnten. Sowohl die reflektierende Praxis als auch Antizipation tragen zur Bereitschaft bei, verantwortungsvoll zu handeln – in der Überzeugung, dass wir den Lauf der Dinge gestalten und verändern können. So entstehen Selbstwirksamkeit und Handlungskompetenz, der Kern des Lernens im 21. Jahrhundert.

Heute dominiert oft das Trennende – Lehrer und Lehrinhalte werden auf Fächer aufgeteilt, die Lernenden nach ihren künftigen Berufsaussichten getrennt. In den Schulen bleiben die Schülerinnen und Schüler unter sich und der Rest der Welt außen vor. In Zukunft muss der Unterricht stärker projektorientiert sein und Erfahrungen vermitteln, die Handlungsorientierung und fächerübergreifendes Denken stärken.

In den Schulen von heute lernen Schülerinnen und Schüler meist individuell und am Ende des Schuljahres bescheinigen wir ihnen ihre persönlichen Leistungen. Je stärker die Welt aber von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt ist, desto mehr brauchen wir Menschen, die gut zusammenarbeiten und die das Miteinander koordinieren. Innovationen werden mittlerweile selten von Einzelpersonen hervorgebracht, sondern sind vielmehr ein Produkt unserer Fähigkeit, Wissen zu aktivieren, zu teilen und zusammenzuführen. Schulen müssen daher Lernumgebungen entwickeln, in denen Schüler lernen, selbstständig zu denken und gemeinsam mit anderen zu handeln. Wir übersehen oftmals die Tatsache, dass das Lernen in der Gruppe auch eine hervorragende Anregung zum selbstregulierten und forschungsbasierten Lernen sein kann.


Selbstwirksamkeit und Handlungskompetenz stärken
Der wichtigste Aspekt ist jedoch, dass Lernen kein Ort, sondern eine Aktivität ist. Zu einer Zeit, als man davon ausgehen konnte, dass das in der Schule Gelernte für ein ganzes Leben ausreicht, stand die Vermittlung von inhaltlichem Wissen und kognitiven Routinekompetenzen zu Recht im Mittelpunkt des Bildungsauftrags. Heute muss der Schwerpunkt dahin verlagert werden, Menschen zu befähigen, Wissen zu strukturieren und lebensbegleitend selbstständig zu erarbeiten. Dabei geht es nicht nur darum, beständig zu lernen, sondern auch Gelerntes wieder zu verlernen und umzulernen, wenn die Rahmenbedingungen sich ändern.

Moderne Schulen müssen den Schülerinnen und Schülern dabei helfen, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und zu wachsen und in einer sich wandelnden Welt ihren Platz jeden Tag neu zu finden und ihn zu gestalten. Durch die Stärkung von Selbstwirksamkeit und Handlungskompetenz sowie der kognitiven, emotionalen und sozialen Resilienz kann Bildung Menschen, Organisationen und Systemen helfen, in einem unvorhersehbaren disruptiven Umfeld zu bestehen und zu wachsen. Sie kann Bevölkerungsgruppen und Einrichtungen die erforderliche Flexibilität, Intelligenz und Reaktionsfähigkeit verleihen, um am sozialen und wirtschaftlichen Wandel erfolgreich teilzuhaben.

Illustration mit Schülern in SingapurDas muss alles gar nicht so kompliziert sein. In Singapur ist es üblich, dass Schüler die Schulverpflegung verantworten. Dort gibt es dann nicht eine Kantine mit einem externen Dienstleister, sondern eine Vielfalt kleiner Restaurants mit Essen aus unterschiedlichen Kulturen, das von Schülern ausgewählt und gestaltet wird. Die Schüler managen den Ein- und Verkauf, die Preisgestaltung sowie externe Dienstleister. In Spanien gibt es eine Gruppe von Schulen, wo Schüler ihre eigenen Lehrpläne zusammenstellen und bei deren Umsetzung von ihren Lehrern digital begleitet werden. So lernen sie, Verantwortung für die Gestaltung von Lernzielen zu entwickeln, eigene Potenziale realistisch einzuschätzen und Lernfortschritte systematisch zu bewerten.


Alle als Lernende betrachten
An deutschen Schulen stehen Standardisierung und Regelkonformität im Vordergrund und Schülerinnen und Schüler werden in Alterskohorten nach demselben Standardlehrplan unterrichtet. In Zukunft müssen Unterrichtsinhalte auf den Interessen und Fähigkeiten der Lernenden aufbauen. Lehrkräfte müssen erkennen, wie jeder anders lernt und in unterschiedlichen Phasen seines Lebens anders an Aufgaben herangeht. Sie müssen neue Wege der Bildungsvermittlung eröffnen, die dem Lernenden das Lernen näherbringen und seinen Lernfortschritt bestmöglich fördern. Viele begabte Menschen mit einem hohen Maß an Handlungskompetenz fallen heute einfach durchs Raster, weil sie nicht in vorgefertigte Bildungsstrukturen passen. Schul- und Studienabbrecher wie Thomas Edison, Albert Einstein, Bill Gates, Steve Jobs, Richard Branson oder Mark Zuckerberg sind dafür gute Beispiele.

Um die Handlungskompetenz der Lernenden zu stärken, müssen die Pädagogen nicht nur deren Persönlichkeit erkennen, sondern auch das größere Beziehungsgeflecht – mit den Lehrkräften, Mitschülern, Familien und dem Lebensumfeld – berücksichtigen, das sich auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler auswirkt. Dabei sollten alle als Lernende betrachtet werden, nicht nur die Schülerinnen und Schüler, sondern auch die Lehrkräfte, Schulleitungen, Eltern und die anderen Personen im Lebensumfeld der Schüler.



Der Physiker und Mathematiker Andreas Schleicher leitet bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) das Direktorat für Bildung. Dabei verlief Schleichers eigene Bildungskarriere zunächst holprig: Auf der Grundschule verwehrte ihm sein Lehrer die Gymnasialempfehlung. Doch der gebürtige Hamburger setzte sich darüber hinweg und legte am Ende das Abitur mit 1,0 ab. Bei der OECD verantwortet Schleicher heute unter anderem die bekannten PISA-Studien.

Mit dem „Learning Compass 2030“ entwirft die OECD eine Vision für das Lernen von morgen. Im Zentrum steht das Konzept der „student agency“ – in Andreas Schleichers Beitrag mit „Handlungskompetenz“ übersetzt. Es geht davon aus, dass Schüler über die Fähigkeit und den Willen verfügen, ihr Leben und die Welt um sie herum positiv zu beeinflussen. Dies soll sich auch auf die Art, wie sie lernen, übertragen. Die Telekom-Stiftung arbeitet derzeit gemeinsam mit Partnern daran, den „Learning Compass 2030“ für das Bildungssystem in Deutschland nutzbar zu machen.

 

Der Gastbeitrag ist in der aktuellen Ausgabe unseres Bildungsmagazins sonar zum Thema „Eigeninitiative“ erschienen.

Foto: SolStock/iStock.com / Illustrationen: Irene Sackmann