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Lehrer erklärt vier Schülern etwas am Pult

„Es ist fünf nach Zwölf“

Studienleiter Klaus Klemm, Stiftungsvorstand Thomas de Maizière sowie drei Schulleiter geben ihre Einschätzung zur MINT-Lehkräfteprognose am Beispiel NRW für das Schuljahr 2030/31 ab.

 

Portrait Klaus Klemm„Für den MINT-Lehrkräftemangel sind mehrere gleichzeitig auftretende Faktoren verantwortlich: Der massive Geburtenanstieg nach 2013 wirkt sich zurzeit auf die Grundschulen aus und wird zeitlich versetzt auch die Sekundarstufen erreichen. Dort scheiden viele MINT-Lehrkräfte altersbedingt aus, sodass 2030 nur noch knapp zwei Drittel von ihnen im Schuldienst sein werden. Zugleich sinkt in den MINT-Fächern die Zahl der Absolventen der Lehramtsstudiengänge, allein in NRW von etwa 1.800 im Jahr 2013 auf 1.200 in 2018. Im Fach Informatik gibt es zurzeit im jährlichen Durchschnitt landesweit lediglich 14 (!) Absolventen – und ob die alle in den Schuldienst eintreten werden, ist offen. Beim Werben um MINT-Fachkräfte hat die Wirtschaft oft genug die Nase vorn! Angesichts des großen Ersatz- und Ergänzungsbedarfs bei MINT-Lehrkräften müsste die Kultusministerkonferenz jetzt offensiver für diesen Beruf werben und unverzüglich in den Hochschulen die Rahmen­bedingungen für das Studium so verbessern, dass die hohen Abbruchquoten verringert werden können. Es geht letztlich darum, unsere jungen Leute so auf die digitalisierte Zukunft vorzubereiten, dass sie darin nicht nur klarkommen, sondern dass sie diese souverän gestalten.“

Prof. i. R. Dr. Klaus Klemm, emeritierter Professor für Bildungsforschung und Bildungsplanung

 

Portrait Thomas de Maiziére„MINT-Kompetenzen sind elementarer Teil der Allgemeinbildung. Um sich in unserer Welt zurechtzufinden und gesellschaftlich teilzuhaben, braucht jeder ein Grundverständnis in mathematischen, informatischen, naturwissenschaftlichen und technischen Zusammenhängen. Dieses gilt es jungen Menschen früh und gut zu vermitteln. Doch wie soll ohne auch nur eine annähernd ausreichende Zahl qualifizierter Lehrkräfte guter Unterricht verlässlich stattfinden? Die Studienergebnisse zeigen: Es ist nicht mehr fünf vor, sondern fünf nach Zwölf, was den Fachlehrkräftenachwuchs in den so wichtigen MINT-Fächern angeht. Die Zahlen mahnen ein umgehendes Gegensteuern an. Politik und Hochschulen müssen schnellstens handeln und dafür sorgen, dass das Prognostizierte nicht Realität wird. Dies geht nur mit vereinten Kräften und einem Bündel von kurz- bis langfristigen Maßnahmen. Dazu gehört, dass MINT-Lehramtskandidaten bestmögliche Studienbedingungen vorfinden, damit sich mehr junge Menschen für diesen Karriereweg begeistern und ihn von Anfang an sicher beschreiten können. Für die Telekom-Stiftung ist zudem ein gut unterstützter Quer- und Seiteneinstieg ein wichtiger und richtiger Weg, um den MINT-Unterricht an unseren Schulen zu stärken.“

Dr. Thomas de Maizière, Vorsitzender der Deutsche Telekom Stiftung

 

Portrait Dorothee Brauner„Grundsätzlich sind wir in diesem Schuljahr gut mit MINT-Lehrkräften besetzt, aber es gibt schon gravierende Schwankungen. Ende des Jahres geht zum Beispiel ein sehr erfahrener Biologie/Chemie-Kollege in den Ruhestand. Zum Glück haben wir einen Referendar für Mathe und Chemie gewinnen können und hoffen nun, dass er bleibt. Wir haben in der Region einen Status als Leuchtturm für MINT erreicht, gehören zum nationalen Excellence-Schulnetzwerk MINT-EC-Schule, bieten Zertifikatkurse Informatik an, haben ein rühriges Kollegium. Aber diesen besonderen Status muss man auch immer aufs Neue bestätigen. Das MINT-Interesse von Schülerinnen und Schülern ist ein zartes Pflänzchen, das permanent gepflegt werden muss. Dafür brauchen wir Lehrkräfte mit Ausstrahlung, Einstellung und Engagement. Der Schulbereich muss aber auch generell attraktive Bedingungen bieten. Wir werden unser MINT-Profil weiter schärfen. Dabei wäre hilfreich, wenn den Lehrkräften mehr Zeit gewährt würde für die vielfälti­gen Aufgaben, die sie erfüllen sollen. Dazu gehört auch, zusätzliche Stellen zu schaffen, um etwa Sozialpädag­ogen für Kinder mit Lernproblemen und natürlich Fachkräfte für den technische Support zu gewinnen.“

Dorothée Brauner, Schulleiterin, Andreas-Vesalius-Gymnasium in Wesel

 

Portrait Volker Henningsen„In der Sekundarstufe I sind wir gut aufgestellt, aber in der Sek II ist die Situation wesentlich angespannter. Beispiel Physik: Noch kompensieren wir zum Teil mit fachfremden Unterrichtsangeboten, aber wenn im kommenden Jahr eine Lehrkraft gehen würde, hätten wir nur noch eine Person für dieses Fach. Dann müssen wir das Unterrichtsangebot kürzen, Kurse zusammenlegen oder auch den Schüler*innen raten, das Fach nicht zu wählen. Unsere individualisiert angelegten MINT-Konzepte aus der Sek I können wir dann nicht wie geplant in der Sek II fortsetzen. In Chemie gibt es eine kleine Entspannung, weil wir kürzlich eine Stelle neu besetzen konnten. Stellenbesetzung ist im Grunde ein Henne-Ei-Problem: Hat die Schule ein attraktives MINT-Angebot, interessieren sich auch mehr Bewerberinnen und Bewerber. Als Schule sehen wir uns in der Pflicht, gute MINT-Konzepte zu entwickeln. Insbesondere für das Fach Informatik ist das ein zentrales Problem. Natürlich brauchen wir vor allem MINT-Lehrkräfte, aber auch Stellen für den technischen Support wären wichtig. Zudem müsste der Bürokratieauf­wand bei Förderanträgen deutlich verringert werden. Unzählige Seiten, auf denen jedes Detail zu rechtfertigen ist, Monate bis zur Entscheidung – das sollte einfacher und schneller gehen.“

Volker Henningsen, stellvertretender Schulleiter, Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Dortmund

 

Portrait Clemens Wilhelm„Wir sind zurzeit gut versorgt mit MINT-Lehrkräften, haben sogar kürzlich junge Leute für Physik, Mathematik und Chemie dazubekommen. Außerdem haben wir eine relative geringe Fluktuation. Die Lehrkräfte scheinen sich bei uns also wohlzufühlen. Das liegt meines Erachtens auch am Profil der Schule und unserem pädagogischen Konzept. Ich bin ein Verfechter von Leben und Lernen im Ganztag. Kinder brauchen heute mehr als früher einen Ort, an dem sie Gemeinsamkeit erleben. An diesem Ort müssen wir die Kinder selbst zu den Protagonisten des Lernens werden lassen, ihre kreativen Potenziale und ihre intrinsische Motivation wecken, sie zu kleinen Forschern machen. Der entscheidende Erfolgsfaktor ist dabei die Lehrkraft. Sie muss die komplexen Anforderungen zwischen fachlichem Wissen, pädagogischem Handwerk und Begeisterungsfähigkeit erfüllen. Den MINT-Lehrkräftemangel als rein quantitatives Problem zu betrachten, ist deswegen zu kurz gesprungen. Wir müssen uns vielmehr den qualitativen Aspekten zuwenden. In der Lehramtsausbildung sollte zum Beispiel im Fach Mathematik der Praxisbezug verstärkt werden. Daher sollte viel mehr darauf geachtet werden, ob die Bewerber für dieses komplexe Berufsbild geeignet sind.“

Clemens Wilhelm, Schulleiter der Ganztagsgesamtschule GGS Neunkirchen, Saarland

 

Fotos: BAZA Production/Shutterstock, Norbert Ittermann, privat