
Digitale Impulse für das Lesen
Ein Gespräch mit Lukas Heymann, Institut Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen.
Die im Dezember 2017 erschienenen Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) haben viele aufgeschreckt: Fast 20 Prozent der Viertklässler können schlecht lesen. Lesen ist unumstritten eine Kulturtechnik, die grundlegend für beruflichen Erfolg und aktive gesellschaftliche Teilhabe ist – auch und gerade in unserer zunehmend digitalisierten Welt. Wie kann das Lesen im deutschen Bildungssystem Ihrer Meinung nach systematischer gefördert werden?
Dass es um die Lesekompetenz deutscher Schülerinnen und Schüler nicht so gut bestellt ist, weiß man ja durch diverse Studien schon sehr lange. Auch, dass ein erheblicher Anteil der Grundschulkinder nicht ausreichend lesen kann, ist nicht neu. Sinnvoll wäre zum Beispiel, schon vor der Grundschulzeit damit zu beginnen, Eltern zu motivieren, ihren Kindern täglich vorzulesen und nicht aufzuhören, wenn ihre Kinder die Grundschule besuchen. Das wäre gewissermaßen eine erste Prävention. Für Schulkinder eignen sich dann Ansätze zur Leseförderung, die Spaß bringen. Neben Büchern stehen hier Zeitschriften, Sachtexte und digitale Medien zur Verfügung, die an die Interessen und Lebenswelten auch leistungsschwächerer Kinder anknüpfen. Die Impulse, Themen und Texte müssen schließlich so vielfältig sein wie die Schülerinnen und Schüler selbst. Das gilt für alle Fächer, für Angebote außerhalb des Unterrichts und, ganz entscheidend, für die frühkindliche Leseförderung.
Sie sprechen von digitalen Medien. Werden digitale Angebote die Lektüre eines „klassischen“ Buchs langfristig ersetzen? Wie lesen Sie persönlich?
Ich denke nicht: Beides wird parallel bestehen und erfüllt unterschiedliche Zwecke. So lese ich beruflich viel digital – zu Hause aber überwiegend gedruckt; zumindest, wenn es um Unterhaltungsliteratur geht. Tagesaktuelle Nachrichten lese ich aber auch zuhause auf dem Tablet. Die Nutzerzahlen sprechen dagegen, dass sich der Wandel so schnell vollziehen wird. Die deutsche Bevölkerung ist digitalem Lesen gegenüber sehr zurückhaltend eingestellt. 61 Prozent sagen nach wie vor, dass sie längere Texte lieber auf Papier lesen. Spannend wird es sicherlich, wenn in zehn Jahren eine neue Erwachsenengeneration in den Beruf startet, für die der Umgang mit Smartphones,Tablet-PCs, Sozialen Medien etc. wirklich Normalität ist. Wie sich deren Mediennutzungs- und Kaufverhalten auch auf das Angebot auswirkt, kann man selbstverständlich nicht mit völliger Sicherheit vorhersagen.
Am Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen wird zum digitalen Leseverhalten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen geforscht. Können sie uns die digitalen Lesewelten der heute 9- bis 16-Jährigen einmal skizzieren? Wie und was lesen Kinder und Jugendliche in diesem Alter digital?
Das Leseverhalten von Jugendlichen ist seit 1998 sehr stabil. Zuletzt waren es 40 Prozent der 12- bis 19-Jährigen, die täglich oder mehrmals in der Woche Bücher lesen. 6 Prozent lesen E-Books; die Mehrheit davon sind übrigens Mädchen. Wie bereits angedeutet, findet Lesen insbesondere auch im digitalen Raum statt. Fast alle Jugendlichen besitzen ein eigenes Smartphone, das in der Regel zur Internetnutzung verwendet wird. Im Zentrum stehen dabei Kommunikation und Informationssuche im Netz – also Tätigkeiten, bei denen die Jugendlichen lesen. Aber auch beim Spielen oder Durchforsten von YouTube lesen sie. Die Lesekompetenz wird also auch im digitalen Raum ständig geschult und erweitert.
Anhänger des analogen Lesens, aber auch Psychologen, behaupten, dass digitales Lesen ein Eintauchen in den Text nur zu einem gewissen Grad zulässt. Vehemente Kritiker vertreten gar die Meinung, dass – verglichen mit dem Buch – eine gleichwertige Konzentration auf den Text nicht möglich ist. Wie bewerten Sie diese Art von Kritik?
Da kommt es sicherlich stark auf die Erfahrung und Gewohnheiten des Nutzers an. Ich selbst habe schon Romane auf einem E-Reader gelesen und konnte genauso eintauchen wie bei einem gedruckten Buch. Ob es tatsächlich das Lernen hemmt, wie ebenfalls behauptet wird, kann ich nicht abschließend bewerten. Dazu braucht man Studien, bei denen die Entwicklung der Lesekompetenz von Jugendlichen, die primär digital lesen, über einen längeren Zeitraum untersucht wird. Die Vorteile von Sachtexten, die digital zur Verfügung stehen, sind nicht von der Hand zu weisen: Sie können schnell durchsucht werden, der Lesende kann Kommentare anlegen und diese wieder ändern und mehrere Menschen können gemeinsam an einem Dokument arbeiten.
Die „Ich kann was!“-Initiative der Telekom-Stiftung fördert digitale Bildung und Medienbildung in der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Wie können Jugendeinrichtungen über digitale Angebote den Ausbau der Lesekompetenz positiv beeinflussen?
Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie Apps im Rahmen der Leseförderung sinnvoll und gewinnbringend eingesetzt werden können. Unsere Webseite hält passende Beispiele und Ideen parat. Beispielsweise gibt es tolle Anregungen über Virtual Reality lesend die Welt zu entdecken. Aber auch Ansätze, die analoge Medien und Digitales verbinden, eignen sich hervorragend: So inszenieren viele Jugendliche ihre Lieblingsbücher auf Instagram. Auch die Stiftung Lesen ist dort mit einem eigenen Kanal vertreten. Jugendeinrichtungen können sich hier anregen lassen und ein eigenes Instagram-Projekt aufsetzen.
Lukas Heymann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen. Dort wird unter anderem zum Leseverhalten von Kindern- und Jugendlichen geforscht.
Foto: privat