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Bildcollage zum Thema Lernen

Die neue Avantgarde

Lehrkräfte sind die wichtigsten Begleiter auf dem Bildungsweg von Kindern und Jugendlichen. Doch ihre Rolle wandelt sich. Die Bildungsforscherin Anne Sliwka erklärt, was den Beruf in Zukunft ausmachen wird.

Die Lehrkraft als …


… Teamplayer
Die Zeit des Einzelkämpfers, der seinen Unterricht alleine plant, ist vorbei. Anne Sliwka: „Aus der internationalen Forschung wissen wir genau, dass sich die Lernergebnisse der Schüler verbessern, wenn Lehrkräfte im Team zusammenarbeiten und gemeinsam überlegen, wie sich Lernziele am besten erreichen lassen. Dabei lernen Lehrkräfte von- und miteinander. Ist die Klasse inklusiv, sollten diese Teams natürlich auch Sonderpädagogen und Lernbegleiter beinhalten. Das Problem ist, dass der Staat bislang keine Rahmenbedingungen geschaffen hat, unter denen Lehrkräfte gut zusammenarbeiten können. Wir brauchen dringend feste Kooperationszeiten, die im Stunden-Deputat der Lehrerinnen und Lehrer abgedeckt sind, außerdem (digitale) Räume für die Arbeit in Teams.“

 

Anne Sliwka
Anne Sliwka, Universität Heidelberg

… Digitalexperte
Wie schlecht digitales Lernen in Deutschland noch läuft, haben im Frühjahr die Schulschließungen vor Augen geführt. Anne Sliwka: „Die Bildungssysteme von Ländern wie Estland, Singapur, Kanada konnten im Lockdown wesentlich schneller und flexibler reagieren. Ich glaube aber, dass die Digitalisierung bald auch an unseren Schulen kein Schlagwort mehr, sondern einfach Realität sein wird. Lehrkräfte nutzen dann ganz selbstverständlich digitale Geräte, Software und Lernplattformen. Digitalisierung wird zu einer normalen Infrastruktur, auf die Pädagogik kommt es an. Die Technik kann auch bei der Lernstandsdiagnostik hilfreich sein: Spezielle Diagnostikprogramme analysieren, wo jeder einzelne Schüler im Lernprozess steht. Führt man sich vor Augen, wie viel Zeit Lehrkräfte heute noch mit dem Korrigieren von Klassenarbeiten verbringen, wird sie das enorm entlasten.“


… Manager für Lernprozesse
Bislang konzentrierte sich die Lehrerrolle stark auf den Job an der Tafel. Künftig werden Pädagogen auch Management-Qualitäten mitbringen müssen. Anne Sliwka: „Die Lehrkraft macht nicht mehr alles selbst. Stattdessen lädt sie Experten von außerhalb in den Unterricht ein, besucht mit einer Klasse ein Schülerlabor an der Uni oder zeigt ausgewählte Lernvideos. Das heißt aber nicht, dass der Beruf anspruchsloser wird. Im Gegenteil, er wird komplexer: Die Lehrkraft muss agil und dynamisch sein, mit anderen professionell zusammenarbeiten, muss alles organisieren und im Blick haben: die Lernziele, den Lernprozess und sämtliche Akteure, die daran beteiligt sind.“


… Kreativitätsförderer
Reine Wissensvermittlung war gestern. Laut Anne Sliwka kommt es heute darauf an, die Schüler mit Ansätzen wie „Deeper Learning“ auch zu aktivieren: „Die Arbeitsprozesse im 21. Jahrhundert laufen viel stärker ko-konstruk-tiv und ko-kreativ ab. Das müssen wir schon in der Schule trainieren. Wissen ist dabei natürlich wichtig, es ist sozusagen unser Rohstoff. Es geht jetzt aber auch darum, die Schüler nach einer Phase der Wissensaneignung selbstständig in Teams etwas erarbeiten oder erzeugen zu lassen, eine authentische Lernleistung. Das kann ein digital erstelltes Poster sein, ein Handy-Halter aus dem 3-D Drucker oder auch eine Tanz-Choreografie. Die Lehrkraft begleitet diesen Prozess im Hintergrund mit diagnostischem Blick, vermittelt Wissen und baut passgenaue ‚Lerngerüste‘, wenn die Schüler nicht weiterkommen.“


… Avantgarde der digitalen Wissensgesellschaft
Anne Sliwka: „Mit dieser Beschreibung wird in Singapur für den Lehrerberuf geworben. Lehrermangel gibt es dort übrigens nicht – genauso wenig wie in anderen Ländern, wo Bildung von staatlicher Seite hohe Wertschätzung genießt. Da müssen wir in Deutschland auch hinkommen und endlich die Rahmenbedingungen verbessern. Denn der Beruf an sich ist ja hochattraktiv. Mit jungen Leuten in der Wissensgesellschaft die Welt zu gestalten – gibt es eine faszinierendere Aufgabe?!“

 

Anne Sliwka ist Professorin für Bildungswissenschaft an der Universität Heidelberg. Zusammen mit der Telekom-Stiftung veröffentlicht sie im kommenden Frühjahr ein Praxis-Handbuch für Lehrkräfte zum Einsatz der „Deeper Learning“-Methode im Schulunterricht.
 

Der Artikel ist in der der aktuellen Ausgabe unseres Bildungsmagazins sonar erschienen.

Fotos: plainpicture/Robert Pola; privat