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Porträt von Tobias Ley

„Die Lehrer hier sind experimentierfreudig“

Wie schaffen digitale Lernumgebungen den größten Mehrwert für Schüler? Tobias Ley von der Universität Tallinn in Estland versucht genau das herauszufinden.

Herr Ley, Sie sind Professor für Learning Analytics und Bildungsinnovationen an der Universität Tallinn. Estland gilt in Sachen Digitalisierung als Vorzeigeland. Macht sich das auch an den Schulen bemerkbar?
Mein Eindruck ist, dass die Offenheit hier an den Schulen allgemein etwas größer ist als in Deutschland. Dort hängt der Einsatz digitaler Medien meist stark an einzelnen besonders affinen Lehrkräften. Jedenfalls hören wir das immer wieder von Delegationen aus Deutschland, die uns besuchen kommen. In Estland hingegen steckt nach meinem Befinden häufiger eine gesamtschulische Strategie dahinter. Dabei hilft, dass die Ausstattung der Schulen mit schnellem Internet und WLAN hier relativ gut ist. Zudem gibt es an fast allen Schulen feste Stellen für Educational Technologists.

Educational Technologists?
Das sind Fachleute, die wir in einem Masterstudiengang an der Universität Tallinn ausbilden. Anschließend gehen sie an die Schulen, wo sie entweder gar kein oder nur ein sehr reduziertes Lehrdeputat haben. Ihre Hauptaufgabe ist stattdessen, Lernszenarien mit digitalen Medien zu entwickeln und die Lehrkräfte dabei zu unterstützen, diese Lernszenarien in ihren Unterricht zu integrieren.

Bieten solche digital gestützten Lernszenarien denn immer einen Mehrwert für den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler?
Genau das wollen wir hier an der Universität herausfinden. Und eine Möglichkeit, dies zu tun, ist durch Learning Analytics. Dabei geht es darum, schon im Lernprozess Daten zu erheben und diese zu analysieren statt nur am Ende des Schuljahres. Mit dem Ergebnis können wir anschließend die Lernprozesse und -umgebungen systematisch verbessern. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Uns hat interessiert, wie man Roboter gewinnbringend im Mathematikunterricht nutzen kann. Deshalb haben wir gemeinsam mit Mathematiklehrern verschiedene Lernszenarien entwickelt und an den Schulen eingeführt.

Und mit Learning Analytics überprüfen Sie nun, ob es funktioniert?
Richtig. Hier arbeiten wir zum Beispiel mit Feedback-Instrumenten, die die Lehrer in ihren Klassen regelmäßig einsetzen: Wurden die Schüler aktiviert, mitzuarbeiten? Hat das Szenario zu stärkerem kollaborativen Arbeiten geführt? Inwieweit haben die Schüler gelernt, ihr eigenes Lernen zu planen? Mit diesen gesammelten Daten können wir dann am Ende des Schuljahres prüfen, ob die Lernszenarien den gewünschten Effekt hatten, und diese gegebenenfalls anpassen. Ein anderes, etwas experimentelleres Beispiel für Learning Analytics sind digitale Schulbücher, die wir mit interaktiven Übungen anreichern. Die Schüler bearbeiten diese Übungen, und das Medium gibt ihnen und ihren Lehrern selbstständig Feedback zum Lernprozess, zu Verständnisschwierigkeiten etc. Wir haben auch schon mit Bewegungsprofilen im Klassenzimmer experimentiert. Damit kann man sehen, wo sich die Schüler aufgehalten, wie sie zusammengearbeitet haben. Aber diese Methode ist noch nicht wirklich einsatzbereit. Wir sind gerade in einer Phase, wo wir sehen wollen, was überhaupt machbar und was sinnvoll ist.

Wenn Lern- oder Bewegungsdaten von Schülern erhoben werden, liegt es nahe, nach dem Datenschutz zu fragen. Welche Rolle spielt der in Estland?
Das fragen mich die Delegationen aus Deutschland auch immer als erstes. Ich würde sagen, das Problembewusstsein ist in Estland sicher weniger ausgeprägt. Für uns Wissenschaftler ist das natürlich hilfreich. Gleichsam ist auch hier durch die Europäische Datenschutzverordnung eine Sensibilisierung eingetreten. In unserer Forschung halten wir alle ethischen Richtlinien ein und besprechen Sie mit Lehrern und Eltern. Andererseits gibt es auch privatwirtschaftlich betriebene Lernplattformen und -umgebungen. Was dort mit den Daten geschieht ist weit weniger klar.

Und wie offen sind die Lehrkräfte für den Einsatz von digitalen Lernumgebungen und Learning Analytics in ihrem Unterricht? Immerhin wird sich dadurch ihre Rolle im Klassenzimmer ja fundamental verändern.
Die Lehrkräfte sind generell recht experimentierfreudig. Es wird nicht lange nach Risiken gefragt, stattdessen probiert man halt aus. Natürlich wird sich durch adaptive digitale Lernumgebungen irgendwann auch die Rolle des Lehrers wandeln: Er wird mehr Lernbegleiter und Moderator denn Wissensvermittler sein, wird mehr Freiheiten haben für projektbasiertes und kollaboratives Lernen. Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. Erst mal müssen die digitalen Assistenten so funktionieren, dass die Lehrer ihnen auch vertrauen und von ihnen überzeugt sind. So weit sind wir heute noch nicht.

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Professor Tobias Ley ist Mitglied des Expertenbeirats im Projekt „Die Zukunft des MINT-Lernens“ der Deutsche Telekom Stiftung. Darin erarbeiten seit Herbst 2018 fünf Universitäten gemeinsam digitale Konzepte für guten MINT-Unterricht, die auch in die Lehrerbildung implementiert werden sollen. Erste Ergebnisse sollen 2020 vorliegen.

Bild: privat