Jump to main content
Eine junge Frau steht am Bücherregal

Das Haus der tausend Welten

Die Phantastische Bibliothek in Wetzlar ist europaweit einzigartig – und ein unvergleichlicher Ort der Bildung.

Den Eingang bewacht ein blecherner Roboter, im Erdgeschoss treiben Drachen ihr Unwesen und im Keller hat das Fellwesen Chewbacca aus „Star Wars“ sein Revier. Dazwischen: hunderttausende Bücher in deckenhohen Regalen. An der Phantastischen Bibliothek Wetzlar ist nicht nur der Name ungewöhnlich. Das Haus ist ein europaweit einzigartiger Lern- und Bildungsort. Thomas Le Blanc gehört hier quasi mit zum Inventar – allerdings im übertragenen Sinne. Der 67-jährige Vorstand der Stiftung Phantastische Bibliothek Wetzlar ist auch ihr Gründer. In den Achtzigerjahren hatte der Schriftsteller, damals hauptberuflich noch als Lehrer tätig, eine Idee. „Ich wollte der Phantastischen Literatur in Deutschland mit ihrer riesigen Fangemeinde ein Zuhause geben. Was wäre da besser als eine Bibliothek?“, erinnert er sich. Schon in den Jahren zuvor hatten sich Autoren und Literaturwissenschaftler regelmäßig zum Symposium „Tage der Phantastik“ in der Heimatstadt Le Blancs in Mittelhessen versammelt.

Der Anfangsbestand der Bibliothek: 10.000 Bücher, als kleine Abteilung der Stadtbibliothek. Heute, nach zwei Umzügen, stehen 290.000 Werke in den Regalen – aus den Genres Science Fiction, Fantasy, Utopien, Horror, Märchen, aber auch Reise- und Abenteuerliteratur. Kaufen musste das Team kaum ein Buch. „Die meisten schicken uns Verlage direkt nach dem Erscheinen zu“, sagt Thomas Le Blanc. Mit der Zahl der Bücher wuchs die Zahl der Mitarbeiter – und auch die der Aktivitäten. Seit ihrem ersten Tag versteht sich die Bibliothek als Bildungsort für Schulen und Kitas und hat dafür das „Zentrum für Literatur“ gegründet. Es entführt Lehrer, Erzieher, Studierende, Bibliothekare und auch Eltern in die Welt der Phantastischen Literatur, richtet sich mit Schreibwerkstätten und Führungen aber auch direkt an Kinder und Jugendliche.


DIE PHANTASTISCHE BIBLIOTHEK IN BILDERN


Manchmal macht die Bibliothek sogar Hausbesuche: „Vorlesen in Familien“ heißt ein Projekt, das Kinder aus benachteiligten Familien fördern will – und zwar dadurch, dass sie Sprache und Geschichten erleben. Ehrenamtliche Vorleser zwischen 25 und 78 Jahren betreuen dabei Kinder aus benachteiligten Familien. Sie lesen aus Büchern vor, die viel mehr vermitteln als nur den wörtlichen Inhalt. „Wir stärken damit das Selbstwertgefühl der Kinder“, sagt Programmleiterin Angelika Nitschke. Die Ehrenamtlichen sprechen dabei nach jeder Vorlesestunde mit den Eltern. Die erfahren so, wie sich ihr Kind entwickelt hat, und bekommen auf Wunsch auch Infos zu Hilfsangeboten für einen gelungenen Alltag. 

Bildung ist der eine Pfeiler der Bibliotheksarbeit, Forschung der andere. Die betreibt die Abteilung Future Life, die damit auch Geld einnimmt für die ansonsten von Spenden und Zuschüssen getragene Bibliothek. Das Ziel: den Inhalt aus Werken der Science-Fiction Politikern oder Unternehmen zugänglich machen. „In unseren Büchern gibt es so viele tolle Ideen – das ist eine unschätzbare Quelle für alle, die mit neuen Technologien zu tun haben“, so Le Blanc. „Die Autoren zeigen uns, wie die Zukunft aussehen könnte.“ Und zwar in jeglichen Lebensbereichen. Das hessische Wirtschaftsministerium gab Future Life vor einigen Jahren den Auftrag, aus den Büchern Ideen zur Nanotechnik zusammenzutragen. Ein Kosmetikunternehmen interessierte sich für das Schönheitsideal der Zukunft. Und eine Wohnungsgenossenschaft fragte das Future-Life-Team nach Wohnmodellen der Zukunft. Eine ausgiebige Recherche lieferte in allen Fällen am Ende dicke Berichte, gespickt mit unzähligen Textstellen zum Thema. „Unserer Erfahrung nach gibt es keine Branche, der wir nicht weiterhelfen können“, sagt Thomas Le Blanc. Die Zahl der Anfragen an Future Life wächst – Science-Fiction als Lösungsansatz für Probleme und Herausforderungen war bislang allenfalls in den USA weit verbreitet. „Visionäre wie Tesla-Gründer Elon Musk versuchen im Prinzip ständig, Science-Fiction-Ideen in die Tat umzusetzen“, so Le Blanc. Literatur mit Nutzwert – und mit unverändert hohem Unterhaltungswert: Jährlich, so schätzen sie in Wetzlar, erscheinen 10.000 neue phantastische Bücher. 

Da ist es gut möglich, dass es künftig zwischen den Regalreihen noch enger wird für Roboter, Drachen und Chewbacca – oder sie sogar noch ein weiteres Mal umziehen müssen. Denn irgendwann passt einfach kein Buch mehr ins Gebäude. Unendliche Weiten – eines der wiederkehrenden Themen vieler fantastischer Bücher, in der Realität aber leider noch Zukunftsmusik.


Die Deutsche Telekom Stiftung arbeitet in verschiedenen Projekten mit Bibliotheken zusammen und fördert deren Arbeit. So unterstützt sie zum Beispiel seit 2017 die Auszeichnung „Bibliothek des Jahres“, bildet ehrenamtliche MINT-Vorlesepaten aus und schult Bibliothekare in Polen und Rumänien.

Autor: Thilo Kötters / Fotos: Sascha Kreklau